Griaß Gott! Wir befinden uns in der Regensburger Minoritenkirche. Die Kirche des ehemaligen Minoritenklosters ist Teil des Historischen Museums, in dem die Kunst- und Kulturgeschichte von Regensburg und Ostbayern ausgestellt wird. In der Minoritenkirche steht eine Orgel, die 1627 von Stephan Cuntz in Nürnberg erbaut wurde. 1929 wurde sie für die Städtischen Sammlungen der Stadt Regensburg angekauft. Und sie birgt ein Geheimnis …
Text von Wibke Ladwig
Kapitel 1 – Das Geheimnis der Orgel
Die letzten Töne des Nachspiels sind verklungen. Der Organist seufzt zufrieden und packt seine Sachen zusammen. Er streichelt kurz über die Orgel und verlässt den Raum. Husch! Husch! Zwei Mäusenasen zucken schnuppernd zwischen den Orgelpfeifen. Die feinen Schnurrhaare zittern. Die Luft ist rein.
Eine weiße Maus schlüpft aus der Orgel, eine graue Maus hüpft hinterher. „So, Maus, dann wollen wir mal prüfen, ob Du aufgepasst hast. Du weißt, als künftige Orgelmaus musst Du einen Blick dafür entwickeln, ob der Organist pfleglich mit der Orgel umgeht und wie er sie spielt. Hast Du darauf geachtet, welche Register er eingesetzt hat?“ Die weiße Maus setzt sich auf die Hinterfüße und sieht die graue Maus streng an. „Öm, naja, also … ich war … da kam doch diese Gruppe in die Kirche, und das Mädchen im roten Kleid hopste so ulkig. Ich mein’, hinterher wäre noch was kaputtgegangen! Da habe ich gar nicht gesehen … Ach, wieso müssen Orgelmäuse sowas denn wissen? Ist doch egal, da, der Orgel geht’s doch gut!“
Die weiße Maus seufzt schwer. Jede Woche dasselbe Theater. Wenn doch nur nicht vor Jahren der komplette Wurf der Tochter und ihres Mäusemannes spurlos verschwunden wäre. Alles deutet darauf hin, dass sie Opfer einer Bande von Straßenkatzen wurden. Typisch, dass ihr einzig die halsstarrigste im Wurf bleibt, die schon damals alles anders machen wollte als andere. Immerhin rettete ihr Eigensinn ihr das Leben. So bleibt nur diese eine als Erbin der traditionsreichen Aufgabe einer Orgelmaus übrig. Eine Schande für die Gilde der Orgelmäuse! Mit Unbehagen denkt Weiße Maus an das nächste Jahrestreffen der Orgelmäuse, wo sie ihre Nachfolgerin präsentieren will. Orgelmäuse aus aller Welt reisen an und berichten von ihren Orgeln. Und die Nachfolger werden initiiert. Aber wie soll das gehen, mit dieser Maus als Nachfolgerin? Viel Zeit bleibt ihr nicht mehr, das fühlt sie. Wären die Dinge so, wie sie sich gehören, hätte sie schon vor Jahren die Pflichten als Orgelmaus an ihre Tochter weitergegeben. Müde blickt sie Maus an. Die junge Maus ist nun wirklich nicht dumm. Manchmal erinnert dieser kleine Widerborst sie an ihre Tochter, die in ihrer Jugend auch sehr lebhaft und neugierig war. Aber dieser Sprößling hier ist so unglaublich schwierig. Immer nur Widerworte! Da, sie hüpft schon wieder zur Tür und lauscht nach Besuchern des Historischen Museums, das in der Minoritenkirche beheimatet ist. „Nun grantel nicht! Hör’ mal, da kommt jemand! Sollen wir nicht gucken gehen? Vielleicht sind das wieder Besucher aus einem anderen Land. Oh, ist das nicht aufregend, woher die immer kommen? Ach, ich würde so gern in diese fremden Länder reisen! Das ist doch viel spannender als diese verstaubte Orgel!“
„MAUS! Genau das ist der Punkt: es liegt an uns, dass diese Orgel nicht verstaubt und vergessen wird. Du weißt doch genau, dass unsere Familie seit Jahrhunderten Mitglieder der Gilde der Orgelmäuse ist. Das Wohl dieser Orgel liegt in unserer Obhut. Wenn du dich mal a bisserl hierfür interessieren könntest …“
„Oooch, immer dieses alte Zeugs … Dabei gibt es da draußen soviel zu entdecken! Und … und, bittschön, Abenteuer!“ Maus grinst begeistert und sieht sich schon als berühmte Reisemaus, immer unterwegs in den Ländern der Welt, von einer heroischen Tat zur nächsten. Ihre Knopfaugen leuchteten. Zujubeln würden ihr die Leute, jawohl! „Hopfen und Malz …“ seufzt die Weiße Maus. Sie schüttelt den Kopf und verschwindet wortlos hinter der Orgel. Die kleine, graue Maus zuckt kurz mit den Schnurrhaaren und quetscht sich dann unter der Tür hindurch. Sie rennt hurtig ins Kirchenschiff und versteckt sich hinter einer der Statuen, um die Besuchern des Museums zu beobachten und ihren Gesprächen zu lauschen.
Kapitel 2 Wer sich in Gefahr begibt
»Maus? MAUS! Rasch, hierher!« zischt die Weiße Maus. Jessas! Um Haaresbreite wären sie entdeckt worden. Schon an die Hundertmal hatte sie Maus gesagt, dass sie von den Menschen nicht entdeckt werden dürfen. Etliche Orgelmäuse fanden durch einen Kammerjäger schon ein jämmerliches Ende. Die Menschen verstehen nun einmal nicht, welcher wichtigen Aufgabe die Orgelmäuse nachgehen. Sicher, die Zweibeiner bauten einst wundervolle Orgeln und vermögen ihnen heute noch wundervolle Töne zu entlocken. Aber für die Feinheiten in der Orgelpflege sind sie schlicht zu groß und zu grob. Wie oft muss sie Maus das noch sagen? Allmählich weiß sie sich keinen Rat mehr. Erst gestern kam Maus wieder zu spät zum Unterricht. Dabei ist es momentan schwer genug, den Lehrplan einzuhalten. In der Kirche geht etwas vor sich. In den letzten Wochen standen öfter fremde Menschen mit den vertrauten Museumsmitarbeitern um die Orgel herum, machten ernste Gesichter und fuchtelten mit ihren Telefonen. Was geht da nur vor sich?
»Weiße Maus, Weiße Maus! Hast du das gesehen? Dieser komische Koffer, den dieser Mann trug? So seltsam geschwungen und leuchtend rot und glänzend! Oh, was mag nur darin gewesen sein?” quietscht die graue Maus aufgeregt und huscht zur Weißen Maus in die Ecke hinter der Glocke im Kirchenraum. Weiße Maus seufzt. Für alles interessiert sich ihr Zögling. Nur nicht für die Geschichte der Orgel und der Musik. Jeder Besucher, jede Besucherin des Museum ist interessanter als das, was Weiße Maus sie lehren will. Lehren muss. Was soll sie nur mit diesem Hanskaschberl machen? »Das war ein Violinenkoffer. Wenn du bei meinem Unterricht zu den unterschiedlichen Instrumenten aufgepasst hättest … Wo willst du denn nun schon wieder hin? Maus!« Eilig hopst der graue Pelzling an der Wand entlang. Sie weiß, dass Weiße Maus nachher wieder mit ihr schimpfen wird. Aber da hinten tut sich doch etwas! Es liegt Besonderes in der Luft, das merkt sie genau. Sie schlüpft in eine Nische. Ihr Schnurrhaare zittern im Takt ihres Mäuseherzens. Da, die Türen öffnen sich und vier Männer tragen große Holzkisten herein. Sie stellen sie neben die Orgel. Was passiert da?Maus blickt sich um und sucht die Weiße Maus. Doch sie ist nirgends zu sehen. Hm. Ob sie sie schnell suchen … aber was, wenn sie das Wichtigste verpasst? Ihre Nase zuckt nervös. Wenn sie nur besser sehen könnte, was die Männer dort tun. Doch zwei Holzkisten stehen nun genau zwischen ihr und den Männern. Einer der Männer, ganz in Schwarz gekleidet, macht sich offenbar an der Orgel zu schaffen. Ihrer Orgel! Ihr Mäuseherz klopft rasch. Sie atmet kurz ein und – rennt hurtig los!“Iiiiiiiieeeeeks, eine Maus” kreischt unvermittelt eine hohe Frauenstimme hinter ihr. Maus macht vor Schreck einen Hüpfer und verliert das Gleichgewicht. Sie überschlägt sich und landet direkt vor der Orgel – und den Füßen des Manns in Schwarz.
Kapitel 3 Von Menschen und Mäusen
»Nun sehen Sie sich das an. Frau Geiger, Sie haben Mäuse!« Der Schwarzgewandete blickte schmunzelnd von der Maus vor seinen Füßen zur Museumsmitarbeiterin, die herbeieilte. Vor ihnen duckte sich furchtsam eine kleine graue Maus. Weiße Maus hatte sie so oft vor den Menschen gewarnt. »Sie sind unwissend, Maus«, hatte sie gesagt. »Sie verstehen nicht, dass wir keine gewöhnlichen Mäuse sind. Sie ahnen nicht, dass wir Orgelmäuse dazu bestimmt sind, für das Wohl der Orgel zu sorgen, die sie einst bauten. Sie wollen nur eins: unseren Tod.« Und nun? Wo war Weiße Maus? Wie sollte sie sich nur retten? Da, nun beugte sich dieser große Kerl in Schwarz zu ihr herunter und … Du lieber Himmel! Da, seine Hand griff nach ihr! Erschreckt quiekte Maus und raste los. Die Hand streifte ihren Pelz. Mit einem gewaltigen Satz sprang sie hinter eine Kirchenbank. Ihr kleines Mäusherz klopfte rasant. Sie huschte weiter. War es hier sicher? Sie hörte jemanden lachen. Der Mann in Schwarz! Weg, nur rasch weg hier! »Hier, Maus, hierher!« Weiße Maus. Nie zuvor war die graue Maus so froh, ihre Mentorin zu sehen. Sie witschte hurtig in die Nische unter der großen Glocke. »Wo WARST du nur?« japste sie mit hoher Stimme, »Ich habe … ich meine, also, das war voll gefährlich! Die Menschen … der Schwarze, dieser Kloifel*! Hättest du mir nicht früher helfen können?«
»Nun, das geschieht dir ganz recht, Maus. Eine Orgelmaus kommt nie zu spät, ebenso wenig zu früh. Sie trifft genau dann ein, wenn sie es beabsichtigt.** Wärest du bei mir geblieben, wie es gedacht war, und hättest meinen Ausführungen zu den Registern der Orgel Beachtung geschenkt … Aber nein, du musst natürlich deiner Neugier nachgeben. Was soll ich nur mit dir machen?« Weiße Maus seufzte und setzte sich bequemer hin. Ihr Rücken wurde auch nicht besser. Sie blickte auf ihren Schützling, der kleinlaut und immer noch bebend vor ihr hockte. »Schon gut, Maus. Wir sehen uns das mal an. Offenbar geht da wirklich etwas vor sich, um das wir uns kümmern sollten. An unserer Orgel, du erinnerst dich hoffentlich, dass wir für sie verantwortlich sind?« Maus fühlte sich ein wenig getröstet. Aber zugleich machten sie die Worte der Weißen Maus zornig. Was dachte sie denn, warum sie unbedingt zur Orgel laufen musste? Klar ging da was vor sich! Sie hatte das sofort bemerkt. Nun sah es wieder so aus, als sei sie nur mal wieder ungestüm gewesen, während die supertolle, superweise Weiße Maus alles im Griff hatte. Pffft. Steifbeinig und mit bockigem Gesicht stapfte sie hinter der Weißen Maus her. Die beiden Mäuse verbargen sich im Schatten einer Kirchenbank und lugten zur Orgel. Lachend standen einige Menschen um die Kisten herum, während sich andere an der Orgel zu schaffen machten. Sehr witzig, dachte Maus bei sich. Erst erschrecken sie mich beinahe zu Tode und dann amüsieren sie sich auch noch darüber. Und überhaupt, was MACHTEN die denn da? Ihre Schnurrhaare zuckten. Sollte sie kurz …? »MAUS! Hiergeblieben!« zischte Weiße Maus genervt. »Du lernst es nie, oder, du aufgestellter Mausdreck***?« Die Mäuse beobachteten aus ihrem sicheren Versteck, wie die Menschen Teile der Orgel abschraubten und nach und nach in Kisten legten. Nun wurde auch Weiße Maus unruhig. Das war ganz gewiss nicht richtig. Hektisch dachte sie nach. Was sollte sie nur tun?
»Pack ma’s!« rief der Schwarze. »Den Rest machen wir morgen.« Werkzeug schepperte. Die Mäuse sahen, wie die Menschen an den Kisten herumräumten, einige von ihnen verschlossen und dann zum Ausgang schlenderten. Und jetzt? Reglos saßen beide Mäuse hinter der Kirchenbank und hypnotisierten die Kisten. »Du wartest hier, Maus« sagte Weiße Maus unwirsch. »Ich folge den Menschen und versuche, herauszufinden, was sie vorhaben. Und du rührst dich nicht von der Stelle, klar?« Sie warf Maus noch einen strengen Blick zu und eilte davon.
»’Und du rührst dich nicht von der Stelle, klar?’ Haha. Hier passiert endlich mal was. Und ich soll hier herumsitzen? Von wegen …« Maus reckte ihre rosafarbene Nase in die Luft und stolzierte zu den Kisten. Sie war sich sicher, dass keine Gefahr drohte. Die Menschen waren schließlich weg, oder? Ha! Kein Grund, sich zu fürchten. Sie kam bei den Kisten an und schnupperte. Mmmh, das roch gut, nach Holz. Nach DRAUSSEN. Nach WELT. Aufgeregt hopste Maus weiter. Herrje, die Orgel war kaum wiederzuerkennen! Die Hälfte war … weg! Nun machte ihr Mäuseherz doch einen Satz. Ihr war die Orgel ja eigentlich völlig egal, aber, naja, das sah nicht sehr gut aus.
Maus krabbelte an der ersten Kiste neben der Orgel hoch. Ihre Schnurrhaare zuckten und sie balancierte über der Öffnung. Sie entdeckte Teile der Orgel. Ah, die Orgelpfeifen. Neugierig beugte sie sich herunter. Wa-wa-was war das? Da, Schritte hinter ihr! Sie war offenbar zu abgelenkt gewesen. Einer der Menschen kam zurück. Oh nein! Zurück ging es nicht, sie wäre ihm direkt vor die Füße geplumpst. Rumms! Maus landete kopfüber zwischen den Orgelpfeifen, die in der Kiste lagen. Noch bevor sie sich aufrappeln konnte, wurde es dunkel. Ein Deckel wurde auf die Kiste gelegt und, plöck, plöck, war die Kiste verschlossen. Verflixt. Maus steckte ernsthaft in Schwierigkeiten. Sie nieste.
Kapitel 4 Klappe zu, Maus …?
RUMMS! Plöck. Plöck. Die Kiste war zu. Verschlossen. Dicht. Ein wenig Licht schimmerte zwischen den Holzlatten hindurch. Oh, das war nun wirklich mal aufregend. Maus plusterte sich auf. Sie fühlte sich wie in einem dieser Abenteuer des berühmten Indiana Mouse! Oder wie hieß der noch gleich? Ein paar Museumsbesucher hatten vor einer Weile von ihm erzählt. So’n schneidiger Kerl, der nach Schätzen jagt und von allen bewundert wird. Immer mit einem kessen Spruch auf den Lippen. So wäre Maus auch gerne! Mutig reckte sie ihre Schnurrhaare in die Höhe und schnupperte. Bestimmt kam ihr sowieso gleich die Weiße Maus zu Hilfe. Wie immer. Be-stimmt!
So war es damals schon, als Maus’ Eltern und ihre Geschwister verschwanden. Angeblich fand man niemals eine Spur von ihnen. Eine Bande von Straßenkatzen machte damals die Gegend unsicher, bis sie im Tierheim dingfest gemacht wurden. Maus erinnerte sich, wie ihre Großmutter, Weiße Maus, erst geschluchzt und dann gekichert hatte, als sie Jahre später erzählte, dass die Rabauken schließlich als sanfte Wohnungsmiezekatzen einzeln vermittelt wurden. Eine davon wurde, so ging das Gerücht, mit einem rosa Schleifchen mitsamt Glöckchen um den Hals von einem selig hüpfenden Mädchen aus dem Tierheim getragen. Das Gesicht der Katze muß Gold wert gewesen sein … Das war das erste und einzige Mal, dass sie Weiße Maus hatte kichern hören. Kichern. Weiße Maus! Nun gut, sie hatte vorher eine Lache Bier aufgeleckt, nachdem ein unachtsamer Passant vor der Tür der Minoritenkirche eine Flasche hatte fallen lassen. Aber als Maus plötzlich allein war, ohne Eltern und ohne Geschwister, da hatte sich Weiße Maus rührend gekümmert. Sie waren die Einzigen, die noch übrig waren. Maus war nur mit dem Leben davongekommen, weil sie nochmal zurückrennen mußte. Denn sie meinte, einen Mann mit zwei verschiedenen Schuhen in der Kirche gesehen zu haben. Als sie zurückkam, enttäuscht, weil sie sich geirrt hatte, war niemand mehr da. Maus seufzte und suchte sich ein behaglicheres Plätzchen zwischen den Orgelpfeifen. Wenigstens etwas Vertrautes. Es schien noch eine Weile zu dauern, bis Hilfe kam. Sie schloß die Augen und fiepte unglücklich. So allein hatte sie sich lange nicht gefühlt. Seit damals.
Dass sie keinen Namen trug, lag am Tod ihrer Eltern. Kleine Mäuse erhalten erst recht spät ihre Namen. Denn leider starben viele Orgelmauskinder, wenn sie noch sehr klein sind. Katzen, Mausefallen, Gift. Das Leben war voller Gefahren! Die Zeremonie, bei der sie alle ihre Namen bekommen hätten, stand damals kurz bevor. Aber sie fand dann nicht mehr statt. Seitdem war Maus einfach – Maus. Manchmal natürlich auch “Graue Maus!” wenn sie mal wieder was angestellt hatte – na ja, gut – also eigentlich ziemlich oft wenn sie sich gegenüber ehrlich war. Ihre Großmutter (die ihren eigenen Namen übrigens angeblich vergessen hatte. Vergessen! Wie konnte man nur?) hatte Maus immer wieder vertröstet. Wenn Weiße Maus gewusst hätte, welchen Namen Maus hätte bekommen sollen, ja. Aber so? Eines Tages wäre es schon so weit, meinte Weiße Maus. Maus solle erstmal lernen, was eine Orgelmaus zu wissen hatte. Dann gäbe es auch einen Namen für sie. Und was wäre schon falsch an »Maus«? Maus schniefte laut und tat sich selber furchtbar leid. Sie schlief ein.
Als Maus aus unruhigen Träumen erwachte, wankte die Welt. Ihr Mäuseherz blieb vor Schreck beinahe stehen. Man trug sie. Also, die Kiste. Und sie saß in der Kiste, immer noch. Es wurde hell. Sie hörte Menschen irgendetwas rufen, ein Auto fuhr vorbei. Es wurde dunkel. Und still. »Fiep!« jammerte Maus. Sie fühlte rein gar nichts mehr von Indiana Mouse in sich. Wer brauchte schon Abenteuer? Abenteuer waren toll, solange man sie – selbst kuschelig und behaglich dabei eingerichtet – aus dem Mund von Anderen hörte. Oder später selbst davon erzählte. Aber jetzt gab es erstmal nur Eines: Sie wollte raus aus der Kiste. Emsig begann sie an den Holzlatten der Kiste zu nagen. Sie hörte ein Scharren von draußen. Dann ein Klappen. Ein weiteres, entfernteres Klappen. Ein Motor sprang an. Sie fuhren! Nun war alles aus.
»Maus? Ma-haus?« Weiße Maus machte sich allmählich Sorgen. Zornig war sie irgendwann spät in der Nacht gegangen. Natürlich hatte Maus gestern nicht auf sie gewartet, wie sie es hätte tun sollen. Weiße Maus hatte ihr erzählen wollen, was sie bei den Menschen erlauscht hatte. Doch sie war nicht aufzufinden. Weiße Maus hatte schon das ganze Museum abgesucht. Bestimmt hatte sie ihre neugierige Nase wieder in etwas gesteckt, das sie nichts anging. Doch als Weiße Maus am Morgen immer noch keine Spur ihres Schützlings fand, zuckten ihre Schnurrhaare nervös. Wo steckte Maus nur? Spätestens zum Frühstück tauchte der kleine Hungerleider immer auf. Immer! Zutiefst beunruhigt huschte Weiße Maus zur Orgel, wo sie einander zuletzt gesehen hatten. Doch dann klappte der Weißen Maus der Kiefer bis auf auf den Boden – aber – was? Wer? Wie konnte das sein? Die Orgel … war weg!
Kapitel 5 Bis ans Ende der Welt
Seit einer halben Ewigkeit fuhren sie. Maus saß in der Kiste zwischen den Orgelpfeifen. Die Kiste stand offenbar neben vielen anderen Kisten in einem Transporter. Der Motor brummte monoton. Ob Weiße Maus sie wohl vermisste? Bestimmt war sie sauer, weil Maus nicht gewartet hatte. In letzter Zeit sah Weiße Maus oft müde aus und war auch viel schneller gereizt. Hatte sie ihre Großmutter eigentlich irgendwann mal gefragt, wie es ihr ging? Maus zuckte schuldbewusst mit ihren Schnurrhaaren. Plötzlich fand sie es sehr unbequem und sie quetschte sich in eine andere Ecke. Unruhig knabberte sie an ihrem Pelz. Nun hätte Weiße Maus auch einfach mal etwas von sich erzählen können, oder? Genau! Immerhin waren sie die Letzten ihrer Familie. Was aber bedeutete, dass auch Weiße Maus fast ihre ganze Familie verloren hatte, als Maus’ Eltern und Geschwister verschwanden. Maus fühlte sich schlecht. Ein ganz blödes Gefühl manifestierte sich in der Magengegend – sie fühlte sich – ja – wie eigentlich? Bedröppelt schlug sie die Augen nieder. “Du hättest sie fragen sollen”, zischte eine Stimme in ihrem Kopf, die der Stimme von Weiße Maus sehr ähnelte. So klang sie, wenn Maus mal wieder völlig anderes im Kopf hatte als etwas über ihre Orgel zu lernen. Maus fühlte sich auf einmal noch viel, viel schlechter als vorhin. Aber Moment mal… Die Orgel! Maus guckte sich die Orgelpfeife, an die sich schmiegte, etwas genauer an. Das Licht in der Kiste war schlecht, aber Maus konnte die Orgelpfeife neben den anderen sanft schimmern sehen. Ha! Dreiunddreißig. Soviel müssten es sein. Sie zählte im Halbdunkel nach. Jawohl. Sie hatte recht. So unaufmerksam war sie im Unterricht von Weiße Maus gar nicht gewesen! Sie seufzte. Eine Unterrichtsstunde bei ihrer Großmutter wäre jetzt nicht schlecht. Sie hätte es warm und sicher gehabt, und gleich danach Abendbrot. Ihr Mäusemagen knurrte. Wer weiß, wohin die Reise gehen mochte. Immerhin war etwas Vertrautes in ihrer Nähe und Maus fühlte sich nicht mehr so einsam wie zuvor. Sie gähnte.
»Orgelmäuse und ihre Orgeln haben eine ganz besondere Beziehung«, sagte Weiße Maus. »Du erinnerst dich, Maus, dass ich dir von Stephanus erzählte, unserem Urahnen? Stephanus half dem Menschen Stephan Cuntz beim Bau der Orgel, damals, im Jahre 1627. Seinen Namen erhielt die Orgelmaus von diesem Menschen. Ich sagte dir schon, dass das auch ein Grund ist, warum wir Orgelmäuse unsere Namen nicht gleich nach der Geburt bekommen. Traditionen muss man pflegen. Meister Cuntz war ein kluger Mann, der ganz für die Musik und Orgeln lebte. Er sagte über die Musik und das Leben: “Das Wunder ist: Je mehr wir teilen, desto mehr haben wir*.” Der Orgelbauer nahm Stephanus das Versprechen ab, sich um die Orgel zu kümmern. Zu der Zeit konnten sich Mäuse und Menschen noch miteinander verständigen, weißt du? Leider hörten die Menschen immer weniger hin und eines Tages hielten sie uns nur noch für quiekendes Ungeziefer. Für Käsediebe und Halunken! Halte dich von den Menschen fern, wenn dir dein Leben lieb ist. Und von ihren Katzen, diesen niederträchtigen Ganoven, die aus unerfindlichen Gründen die Menschen schon immer fest in ihrer Pfote hatten.« Maus nickte schnell und dachte an die Knacker und das köstliche Stück Sauerteigbrot, das nebenan auf die wartete. Beides hatten sie am Morgen in einem Korb vorm Museum »gefunden«. Boah, wie das duftete! Gleich würde sie ihr Stück in Pfoten halten und in die knusprige Kruste beißen …
KRACH! Es wurde schlagartig hell, als die Tür des Transporters aufgerissen wurde. Maus wurde jäh aus ihren Träumen gerissen. Statt nach Brot roch es nach Abgasen. Menschen riefen laut durcheinander, dann griff sich jemand die Kiste und trug die Kiste samt Maus davon. Pfui Deifi! Was denn noch? Was ging hier nur vor? Wo war sie? Überraschend sanft stellte der Mensch die Kiste ab und ging. Andere Menschen kamen, stellten Kisten hin und gingen wieder hinaus. Dann war es still. Und jetzt? Maus sah nach oben. Nanu? Was war denn das? Da hatte sich ja der Deckel beim Transport etwas gelöst. Maus seufzte erleichtert auf, hangelte sich hoch und balancierte mit ihren Füßen auf der Orgelpfeife. Gar nicht so einfach auf dem Metall Haltung zu bewahren. Mit ihrer spitzen Nase schubste sie gegen den Deckel. Autsch. Verdammt! Ganz schön hart, diese Kiste! Hmm, sollte sie noch mal schubsen oder – sie überlegte. Dann kam ihr die Idee: Gut, lieber drücken statt schubsen. Das müsste doch funktio…. Aaarrrrggghhh! Da, der Spalt war groß genug. Endlich! Fast gescha… Moment: Da war doch was? Hatte da nicht irgendwas die Kiste gestreift? Maus erstarrte. Da – schon wieder. Maus war unheimlich zumute. Was war das nur? Es war mehr zu spüren als zu hören. Lange konnte sie auf jeden Fall so nicht bleiben. Halb hing sie am Kistenrand, halb lavierte sie auf einer der Orgelpfeifen herum. Raus oder rein? All zu lange konnte sie sich bestimmt nicht in dieser unbequemen Position halten – und dann? Wie hoch war die Kiste eigentlich? Maus Barthaare zitterten. Um sie herum war es totenstill. Plötzlich knackte etwas …
Kapitel 6 Katz und Maus
Das Knacken dröhnte durch die Stille. Ein Fauchen. Ein Fauchen? Maus zuckte zusammen. Keine gute Idee. Denn sie hangelte am Rand der Kiste, halb drinnen, halb draußen. Noch während sie überlegte, ob es in der Kiste nicht doch besser wäre, verlor sie das Gleichgewicht und kippte kopfüber über den Rand der Holzkiste. Mit einem dumpfen Platsch landete sie auf ihrem pelzigen Allerwertesten − und blickte in ein Paar bernsteinfarbene Augen, die ihr aus einem unergründlichen schwarzfelligen Gesicht entgegenblickten. Zu nah! Katze! Waaah! Maus machte einen Satz rückwärts und prallte an der Kiste ab. Sollte sie wie ihre Familie von einer Katze gefressen werden? Hey, sie war die letzte ihrer Familie, die nächste Orgelmaus, sie war, sie war … ja, genau, sie war etwas Besonderes! So endeten keine Abenteuergeschichten, das war unfair! Maus schnappatmete und ihre Angst verwandelte sich in Zorn. Sie baute sich in ihrer ganzen Kleinheit vor der interessiert guckenden Katze auf und funkelte sie an. Ihre Schnurrhaare vibrierten erbost. Sollte sie mal kommen, dieses Katzentier! Pah, wer war sie denn, diese gewöhnliche, stinknormale Stubenmieze?
Die kicherte. »Na, Maus. Was ist Sie denn für eine? Sei Sie froh, dass Kraven schon gefressen hat.« Maus starrte die schwarze Katze verdutzt an. Sie erinnerte sich, dass ihr Weiße Maus erzählt hatte, dass Katzen gemeinhin von sich in der dritten Person und sowieso sehr merkwürdig sprechen. Sie wähnen sich als die Königinnen der Tiere, aber bitteschön, wer glaubt denn einen solchen Unfug? Maus zappelte unruhig. Und jetzt? »Äh, Kraven?« krächzte sie nervös. »Kraven Seidenweich, wenn’s recht ist, Haus- und Hofkater der Hermann Eule Orgelbau GmbH. Seit sechs Jahren im Dienst, ohne Fehl und Tadel.« Maus verkniff sich ein Prusten. Seidenweich? Hihi. Hm, sollte sie sich nun auch vorstellen? Hatte der Kater eben nicht was von Fressen gesagt? Aber vielleicht schmecken Mäuse nicht mehr, wenn man erst ihren Namen kennt. Betroffen blickte sie zu Boden. Sie hatte nur keinen Namen. »Was hat Sie denn? Warum schaut Sie so traurig?« fragte der Kater. Eine Katze, die nicht nur sehr verschwurbelt spricht, sondern auch noch Mitgefühl mit einer Maus hat? Allmählich kam sich Maus wirklich wie in einem Abenteuer von Indiana Mouse vor. Vielleicht wachte sie morgen auf und alles war wieder, wie es sein sollte. Solange musste sie allerdings am Leben bleiben …
»Maus, Orgelmaus, also, demnächst eine richtige Orgelmaus. Ich bin aus der Minoritenkirche in Regensburg, weißt du, darin ist das Historische Museum, sehr erfreut,« haspelte sie. »Ich kam in dieser Kiste da. Da ist meine Orgel drin. Naja, nicht die ganze Orgel. In dieser Kiste sind die Orgelpfeifen. Der Rest dürfte in den anderen Kisten sein, wenn ich das richtig überblicke. Oh, da drüben steht aber auch schon ein Teil meiner … Ist das meine Orgel? Entschuldige, das ist mein erstes Abenteuer. Ich übe noch. Was wollte ich fragen? Ach ja. Ähm, könntest du mir vielleicht sagen, wo ich hier bin?« Der Kater ordnete mit der Pfote ihre Schnurrhaare. »Kein Name, nein? Nun, kleiner Mäusling, er befindet sich in Bautzen, in der Orgelbau-Werkstatt der Firma Eule. Und wenn er seine Orgel mitbrachte, wird sie hier in guten Händen sein. Hier werden hervorragende Orgeln erbaut und historische Orgeln restauriert.« Kraven machte ein wichtiges Gesicht und maunzte zur Bekräftigung. Restau- äh, was? Maus überlegte noch, ob sie den Kater fragen sollte, was das bedeutete. In dem Moment verzog Kraven missmutig das Gesicht. »Zeit ist endlich, Kravens Geduld auch. Na los, ziehe Sie Leine, Orgelmaus ohne Namen. Bevor Kraven wieder hungrig wird.” Die Katze täuschte einen Sprung an und fauchte. Maus nahm hurtig Reißaus. Herrje, was für eine launische Miezekatze! Da, sie stolzierte aus dem Raum und verschwand. Maus atmete tief durch. So. Bautzen. Maus hatte keine Ahnung, wo um Himmels willen das sein sollte. Sollte das in der Tat kein Traum sein, war das aber ihr geringstes Problem. Sie war allein. Niemand wusste, wo sie war. In den Kisten war offenkundig ihre Orgel. Diese Kisten standen in einer Werkstatt. Ein Teil der Orgel war bereits ausgepackt. Und in dieser Werkstatt trieb sich eine eingebildete Katze herum, die demnächst hungrig war. Apropos hungrig. Hier knurrte ein Mäusemagen, und zwar deutlich. Wo sollte sie hier nur etwas zu essen herbekommen? Maus pirschte los …
Kapitel 7 Verkehrte Welt
Ein Bratwürstl. Mhhh … Das wär’s jetzt! Maus dachte an die Leckereien, die zu Hause so selbstverständlich gewesen waren. Ihr Magen schmerzte vor Hunger. Sie huschte suchend durch die Werkstatt. Meine Güte, gab es denn nichts Essbares hier? Ob sie Kraven suchen und ihn fragen sollte? Lieber nicht. Mit einer Katze über Essen sprechen, wenn man nicht selbst gefressen werden wollte − das Risiko war ihr zu groß. Vielleicht fand sie draußen etwas. Ihr Blick fiel auf die Katzenklappe in der Werkstatttür. Das dürfte gehen. Maus zwängte sich durch die Klappe. Ihre Schnurrhaare zuckten. Es war ein freundlicher Tag. Irgendwo zwitscherten Spatzen munter. Maus sah ein langgestrecktes Gebäude. Hinter einem der Fenster ließen sich die Silhouetten einiger Menschen erahnen. Von denen hatte sie allerdings nun erstmal genug. Sie rannte leise zur nächsten Ecke und sah zwei Menschen, die direkt auf sie zuzusteuern schienen. … und, da ein Schatten über ihr, zwei Krallen packten sie und − WUSCH! − ging es in die Höhe. Maus blieb beinahe das Herz stehen und sie brachte keinen Piep heraus.
Die Eule wunderte sich etwas über das leichte Gepäckstück in ihren Krallen. Die Wanderratten, die sie normalerweise vor den Menschen beschützte, waren kompakter und größer. Athena, so hieß die Eule, hatte zugebenermaßen nicht richtig hingesehen, als sie den Nager packte. Es war reiner Zufall, dass sie am Tag unterwegs war. Kraven hatte ihren Schlaf gestört und ihr irgendeine wirre Geschichte erzählen wollen. Um ihn loszuwerden (sein ausholendes Geschwurbel ging ihr an manchen Tagen einfach auf die Nerven), flog sie los, um sich einen anderen Schlafplatz zu suchen. Da sah sie aus dem Augenwinkel eine vertraute Situation: Nager, Menschen, Gefahr. Klarer Fall für eine Eule in geheimer Mission. Sie landete in einem ihrer Schlupfwinkel und legte das schreckstarre Mäuslein vor sich hin. Eine Maus. Keine Wanderratte. »Frisst du mich jetzt?« fiepte der kleine graue Nager. Im selben Moment knurrte laut ein Magen. Athena schmunzelte innerlich. (Eulen müssen das innerlich machen, denn mit einem Schnabel schmunzelt es sich schwerlich.) Ihr Magen war es nicht. »Nun, nun, Maus, beruhige dich. Ich werde dich nicht fressen. Aber mir scheint, dass du dringend etwas zu fressen brauchst, hm?« Maus verstand gar nichts mehr. Erst ein Kater, der sie nicht fressen will. Nun eine Eule, die sie ebenfalls nicht fressen will. Das musste nun wirklich ein Traum sein. Aber konnte man im Traum einen solchen Hunger haben? Maus jammerte leise.
Die Eule kramte in einer Ecke herum und kam mit einem Kanten Brot wieder. »Hier, fürs Erste. Ich war nicht auf Gäste eingestellt, aber ich werde sehen, was ich nachher organisieren kann.« Maus knabberte erst zögerlich, dann mit großem Eifer am Brot. Oh, tat das gut! Als der erste Hunger gestillt war, regte sich wieder ihr Misstrauen. »Gäste?« quietschte sie, »Aber … du bist doch eine Eule. Du frisst Mäuse. Ich verstehe das nicht. Das ist doch alles verrückt!« Athena blickte gütig auf die aufgelöste Maus hinab. Wenn sie nicht alles täuschte, hatte dieses zerzauste Mäuslein in der letzten Zeit einiges mitgemacht. »Ich mache dir einen Vorschlag, Maus. Hast du eigentlich keinen Namen? Ach, das klären wir später. Also, ich heiße Athena und bin eine Hüterin. Deshalb fresse ich keine Mäuse. Auch keine Ratten, im Übrigen. Später erkläre ich dir alles. Nun schlaf’ erstmal. Du siehst aus, als habest du ein wenig Ruhe dringend nötig. Während du dich ein wenig erholst, besorge ich uns etwas zu fressen. Da drüben kannst du dich hinlegen. Dort bist du sicher. Kein Mensch hat dort Zugang. Und übrigens auch keine Katze, solltest du dich deswegen sorgen.« Maus fühlte sich in der Tat völlig erschöpft. Was soll’s? Wenn das ein Traum war, wäre sie beim Erwachen wieder in Regensburg und sie ginge zum ersten Mal glücklich und erfreut zum Orgelmausunterricht. Und wenn sie gefressen würde? Maus gähnte. Sei’s drum …
Die Eule schaute auf das kleine, leise schnarchende Pelzbündel hinunter. Vorm Einschlafen hatte die Maus noch etwas von ihrer Orgel gefaselt. Aha. Wenn sie nicht alles täuschte, war die Maus keine gewöhnliche Maus. Da war etwas Vertrautes in dem, wie sie sprach und wie ihre Schnurrhaare zuckten. Sie erinnerte Athena an eine andere Maus, die sie vor langer Zeit kannte. Das war ein ordentlicher Tumult damals. Falscher Stolz und Eifersucht brachte ihnen allen Zank und Hader. Athena seufzte. Falls sie mit ihrer Vermutung recht behielt, würde es Probleme geben. Es ist dumm, sich über die Welt zu ärgern. Es kümmert sie nicht. Die Eule rief sich die Worte einer anderen, weiseren Eule* als sie in Erinnerung. Aber Schluß damit. Das war schlicht nicht ihre Tageszeit. Etwas zu essen musste dennoch her. Dann würde sie sich um den Rest kümmern. Athena flog los.
Kapitel 8 Schatten der Vergangenheit
»Da ist sie.« Die Eule zeigte auf den Schlupfwinkel, in dem Maus fest schlief. Eine ungewöhnlich dunkle Wanderratte setzte sich neben die Eule. »Sieh mal einer an. Und du glaubst …?« Athena neigte ihren Eulenschnabel zur Seite und starrte die Ratte aus ihren bernsteinfarbenen Augen bedeutungsvoll an. »Ich bin mir sogar ziemlich sicher. Erinnerst du dich? Ich habe dir damals gesagt, dass diese Geschichte noch nicht zu Ende erzählt ist. Alles im Leben fügt sich, Klara.« Klara, die Wanderratte, zischte vergnügt. »Athena, meine Gute, du immer mit deinen klugen Sprüchen. Habt ihr Eulen für sowas ein Handbuch? Eines Tages verzieren diese verrückten Menschen mit diesen Sprüchen noch Eulenbilder und versenden sie mit diesen seltsamen Geräte, die sie immerzu in den Händen halten. Du weißt, ich sehe das etwas anders. Aber dennoch ist eine Ähnlichkeit nicht zu leugnen, selbst wenn sie mir etwas mickrig vorkommt. Auch die Farbe ist anders. Aber diese rosafarbenen Ohren, die rundliche Kopfform … Und natürlich die Orgel. Ob das ein Zufall ist? Soll ich sie wecken, damit wir sie befragen können? Ob sie nach Hause telefonieren will?« Die Ratte kicherte und bohrte mit einer Kralle Löcher in die Luft.
Athena rollte mit den Augen und schüttelte ihren Kopf. »Du klingst wie ein Eimer Schrauben, wenn du kicherst. Laß’ sie noch eine Weile schlafen. Sie wirkte arg mitgenommen, als ich sie fand. Du solltest mittlerweile wissen, dass Orgelmäuse empfindlicher sind als normale Mäuse. Und wenn mich nicht alles täuscht, haben wir ein Exemplar aus einer sehr eigenwilligen und sensiblen Orgelmaus-Familie vor uns.« Die Eule und die Ratte betrachteten das graue Mäuslein, das sich gerade leise ächzend umdrehte, jämmerlich seufzte und weiterschlief. Sie zogen sich etwas zurück, um ihren Schlaf nicht zu stören. »Hast du dir die Orgel angesehen?« Klara, die Wanderratte, nickte. »Die Menschen packen sie gerade aus. Ein prächtiges Exemplar. Alt. Spätes sechzehntes, vielleicht schon siebzehntes Jahrhundert, schätze ich. Das meiste ist noch in den Kisten. Aber die Teile mit der Inschrift … Gut erhalten. Schönes Stück. Und, ja, ich habe die Inschrift gesehen:
Alles was Athem hat
Lobe den Herrn
Halleluja.
Tja. Weiße Maus hatte damals davon erzählt, ich erinnere mich noch gut. Es könnte also ihre Orgel sein.«
Weiße Maus? Athena und Klara waren in ihr Gespräch vertieft und bemerkten nicht, dass die Maus hinter ihnen erwacht war. Hatte sie richtig gehört: die Eule und diese Ratte da (wer war das nun wieder? Jesses, das wurde ja immer verrückter hier!) sprachen über ihre Weiße Maus, ihre Mentorin, ihre Großmutter? Ihre Orgel? Was sollte sie tun? Am besten tat sie so, als schliefe sie. Sonst würde ihr sowieso wieder keiner verraten, was hier vor sich ging. Sie kniff ihre Augen zusammen, machte sicherheitshalber ein paar Schnarchgeräusche und spitzte ihre Ohren …
»Klara, wenn ihr euch allesamt damals nicht so kindisch angestellt hättet, wüsstest du, ob es die Orgel aus Regensburg ist. Du hättest sie dir vor Ort ansehen können. Aber nein, du musstest unbedingt deine zweifelhaften Späße treiben. Bis Weiße Maus im Zorn das Bündnis mit den Wanderratten brach und seither nie wieder bei einem Jahrestreffen der Orgelmaus-Gilde gesehen wurde. Wegen dir. Sie schwor, dass sie dafür sorgen würde, dass keine Wanderratte jemals wieder Regensburger Boden betreten würde. Und du? Du hast dich auch noch über sie lustig gemacht und warst am Ende selbst beleidigt, weil sie dir deine Piesackereien übelnahm. Mal ganz davon abgesehen, dass du sie bei ihrem Schwarm damals verraten hast. Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, sie bei ihm lächerlich zu machen. Sie war schüchtern und hätte sich nie getraut, ihm ihre Zuneigung zu gestehen. Du wirst ihm ungeheuerliche Geschichten aufgetischt haben. Und er hat sie auch noch geglaubt und mit allen anderen über sie gelacht. Und warum? Weil sie weiß und nicht grau war. Und weil sie sich nicht zu wehren vermochte. Herrje! Du weißt selbst, dass Regensburg deshalb aus dem Nachrichtensystem der Gilde herausfiel. Das Wissen um die Orgel schien unrettbar verloren, bis heute. Es war deine Schuld, Klara. Dafür könnte ich dir immer noch die Rattenohren langziehen.«
Maus horchte angestrengt. Die beiden kannten Weiße Maus, tatsächlich. Und Regensburg. Und ihre Orgel. Unglaublich. Noch unglaublicher war, was sie über Weiße Maus hörte. Ihr kleines Mäusherz zog sich mitleidsvoll zusammen. Diese doofe Ratte! Die Eule schien immerhin auf ihrer Seite zu sein. Hätte sie Weiße Maus nicht damals helfen können? Und warum war sie denn nicht einfach mal nach Regensburg geflogen? Seltsam. Maus blinzelte zu den beiden hinüber. Sie sah, wie sich die Wanderratte unbehaglich wand und etwas Unverständliches vor sich hinmurmelte. Was hatte sie gesagt? »Was hast du gesagt?« Maus zuckte zusammen. Hatte sie etwa laut gedacht? Aber die Eule blickte nur auf die Ratte, die nervös in ihrem Fell knabberte. »Ja doch, du hast ja recht. Es war mies von mir. Ich weiß heute auch nicht mehr, welcher Teufel mich damals geritten hatte. Es gab da diesen niedlichen Rattenmann, ach, ich weiß nicht mehr wie er hieß, den ich unbedingt beeindrucken wollte. Und Weiße Maus ließ sich so wunderbar ärgern.« Klara kicherte. Maus dachte bei sich, dass die Ratte klang wie ein Eimer Schrauben, wenn sie kicherte. »Weißt du noch, als ich Weiße Maus …« Die Eule stampfte kurz auf und blickte die Ratte finster an. »Schon gut, schon gut, ich weiß, dass das falsch war. Und es tut mir leid, ehrlich. Ich hätte mich auch entschuldigt, wenn Weiße Maus nicht … Naja, also, ich hätte mich wirklich entschuldigt, wenn …«
»Wenn du nicht so feige gewesen und Regensburg seitdem gemieden hättest? Und allen anderen Wanderratten erzählt hättest, dass sie Regensburg nicht mehr bereisen dürften, sonst hetzte Weiße Maus ihnen Straßenkatzen auf den Hals? Mit denen sie angeblich im Bunde war? Eine Maus und Straßenkatzen, ernsthaft? Gute Güte, Klara!« Die Eule wandte sich kopfschüttelnd ab. »Ach komm’, Athena. So einfach war das nicht, ehrlich!« Die Wanderratte schnappte sich verlegen ihre Schwanzspitze und biss ein wenig darauf herum. »Schau mal, unser Gast ist wach.« Athena und die Wanderratten guckten Maus an. Maus erstarrte. »Na, Maus, immer noch hungrig?« Ein Magen knurrte.
Kapitel 9 Ein Geheimnis wird gelüftet
In Maus rumorte es. Und es war nicht nur ihr Magen, der knurrte. Die ganze Maus knurrte. Ob sie hungrig war? Natürlich. Das Magentratzerl von vorhin vermochte ihren Hunger nicht zu stillen. Aber Maus knurrte − vor Zorn! Sie hatte die Nase voll. Hatte sich denn die ganze Welt gegen sie verschworen? Dass Weiße Maus sie zuhause herumscheuchte und sie ihr nie etwas recht machen konnte, gut, daran war sie gewöhnt. Aber dann packte man sie in eine Kiste (naja, so ungefähr), verfrachtete sie ins Irgendwo und dann fuhrwerkten ein Kater, eine Eule und nun auch noch eine Ratte nach Belieben mit ihr herum? Ihr reichte es! Maus baute sich vor Athena und Klara auf. Ihre Schnurrhaare zitterten vor Empörung. »Also.« Finster blickte sie die Eule und die Wanderratte an, die beide erheblich größer waren als sie. »Ich will jetzt einige Antworten von euch, keinen Schnickschnack mehr. Und wenn ihr mich dann fressen wollt, bitteschön. Ich lasse mich auf jeden Fall nicht mehr von irgendwem herumschleppen oder für dumm verkaufen. Ich … ich bin eine Orgelmaus und habe das Recht darauf, zu erfahren, was hier vor sich geht.« Sicherheitshalber plusterte sie ihr Fell auf, um noch etwas beeindruckender zu wirken. »Potz Blitz! Nun sieh’ dir mal diese Maus an, Athena. Mutiger als ich dachte.« Widerwilliger Respekt war aus der Stimme der Wanderratte herauszuhören. »Mit ihr könntest du nicht so umspringen wie mit Weiße Maus«, bemerkte die Eule spitz.
»Apropos Weiße Maus.« Maus räusperte sich. Heimweh durchzuckte sie jäh. Na toll. Einen Kloß im Hals konnte sie nun wirklich jetzt nicht gebrauchen! »Also, wenn ich das richtig verstanden habe, kennt ihr meine Großmutter, Weiße Maus, Orgelmaus in der Minoritenkirche von Regensburg? Im Historischen Museum? Ja?« Die Eule und die Wanderratte nickten zögernd. Da hatte wohl jemand gelauscht. »Schön. Ausgezeichnet. Dann … äh … Von dir, Eule, will ich wissen, warum Weiße Maus hier war. Und warum du Weiße Maus offenkundig damals im Stich gelassen hast. Außerdem will ich wissen, was mit meiner Orgel hier in der Werkstatt passiert. Du, Ratte, sagst mir alles über dieses Bündnis der Wanderratten und was das mit Orgelmäusen zu tun hat. Außerdem will ich von euch beiden wissen, ob es noch andere Orgelmäuse auf der Welt gibt und warum Weiße Maus mir nichts darüber gesagt hat. Ich will wissen, warum es hier eine Katze und eine Eule gibt, die keine Mäuse fressen. Das ist doch unnatürlich! Und dann … dann will ich was zu essen und nach Hause! So!« Maus schnaufte. »Ja nun, ich …« »Das war so …« Athena und Klara begannen gleichzeitig zu sprechen und verstummten wieder. »Fang’ du an, Eule« sagte Maus. Athena zwirbelte verlegen mit dem Schnabel ihre Flügel zurecht und setzte sich anders hin. »Das war so«, krächzte sie etwas heiser, »damals gab hier die Jahresversammlung der Gilde der Orgelmäuse. Ja, es gibt noch andere Orgelmäuse auf der Welt, überall da, wo es wertvolle Orgeln aus vergangenen Zeiten zu beschützen gilt. Ich wundere mich, dass Weiße Maus dir offenbar nichts darüber erzählt hat, Ich weiß nicht, warum. An die hundert Orgelmäuse waren hier, um von ihren Orgeln zu berichten. Die Tradition bestimmt, dass die Mentoren ihre Nachfolger zu diesen Versammlungen mitbringen, wo sie auf ihre Eignung geprüft und initiiert werden. An den Versammlungsorten gelten die Orgelmäuse als unberührbar. Keine Katze und keine Eule würden sie jemals anrühren. Das .. das ist eben so.
Weiße Maus war erst ein Jahr zuvor zur Orgelmaus ernannt worden. Entsprechend aufregend war für sie ihre erste Versammlung als richtige Orgelmaus und Vertreterin ihrer Orgel. Hat sie dir nie davon erzählt? Nun ja, ich kann irgendwie verstehen, wenn sie dir das verschwieg. Es gab eine gewisse Ratte«, Athena warf Klara einen scharfen Blick zu, »die Weiße Maus solange beschämte und ärgerte, bis sie heulend abreiste.« Die Wanderratte kratzte sich verlegen das Fell. Maus unterbrach die Eule: »Aber wieso war eine Wanderratte dabei? Du willst mir doch nicht erzählen, dass es Orgelratten gibt? Ich bitte dich!« Athena seufzte. »Aha. Das weißt du also auch nicht. Du bist wirklich eine Orgelmaus? Bist du dir sicher? Die Wanderratten dienen den Orgelmäusen von jeher als Kundschafter und Boten für Nachrichten zwischen den Orgelmäusen. So halten die Orgelmäuse auch außerhalb der Versammlungen Kontakt, Informationen werden getauscht und es wird sichergestellt, dass im Falle eines Unglücks keine Orgel unbemaust bleibt.«
»Schön und gut. Schlimm genug, dass ihr Weiße Maus damals vergrault habt. Aber wieso ist nie jemand gekommen, um sich zu entschuldigen? Eule? Oder du, Ratte?« Im Takt ihrer Entrüstung vibrierten Maus’ Schnurrhaare inzwischen wie ein Metronom. Die Eule guckte angestrengt nach draußen, die Ratte untersuchte wenig anmutig, aber umso konzentrierter ihr Fell auf juckende Stellen. »Feige. Ihr wart einfach feige, oder?« sagte Maus leise und traurig. Sie ging zur Öffnung des Verstecks und blickte über den Hof. Die Sonne schien. Das kalte Winterlicht hatte sich schon etwas goldener gefärbt und gab eine Vorahnung auf den Frühling. Links von ihr schmiegten sich die ersten Krokusse an die Hauswand. Maus dachte an Weiße Maus und wie sehr sie sich bemüht hatte, sie alles über die Orgel zu lehren. Aber dass es andere Orgelmäuse gibt, Versammlungen und ein Nachrichtensystem über Wanderratten − hätte sie Weiße Maus aufmerksamer zugehört, wenn sie davon gewusst hätte? Am meisten hatte sie immer bedrückt, dass Maus das Gefühl hatte, dass es egal ist, ob eine Maus Orgelmaus wird oder nicht. Niemand würde je davon erfahren. Ihr Tun schien keinerlei Bedeutung zu haben. Dass ihre Orgel, ihre Kirche, dass Regensburg ein Knotenpunkt in einem weltweiten System war, überwältigte Maus. Und dass sie über Weiße Maus eigentlich nichts wußte, schon gar nicht über deren Weg zur Orgelmaus, das machte sie traurig. Sie hatte plötzlich das Gefühl, dass es für sie in Regensburg mehr zu tun gab als in irgendwelchen Abenteuern.
Vor allem mußte sie dringend mit Weiße Maus sprechen. Dieses Zerwürfnis schien ihr doch vollkommen unnötig zu sein. So doof sie diese Wanderratte fand (und ehrlich gesagt war die Eule auch nicht viel besser): Regensburg mußte wieder Teil des Netzwerks von Orgelmäusen werden! Ihre Orgel war immerhin eine der wenigen noch erhaltenen Orgeln aus dem 17. Jahrhundert und wegen ihrer hervorragenden tischlerischen und konstruktiven Bauform eines der bedeutendsten Orgelinstrumente (ha, die Formulierung hatte sie behalten, jawohl!). Eine solche Orgel brauchte die Hingabe ihrer Orgelmaus und die Aufmerksamkeit der Welt. Was würde geschehen, wenn es keine Orgelmaus mehr in Regensburg gäbe? Aber Moment, es gab in der Regensburger Minoritenkirche überhaupt keine Orgel mehr! Maus drehte sich um und blickte die Eule und die Wanderratte an. »Was ist mit meiner Orgel? Wie kommt sie zurück nach Regensburg? Und wie komme ich zurück nach Regensburg?«
Kapitel 10 – Im Namen der weißen Maus
Genüsslich biss Maus in ein duftendes Stück Käse. Sie zerbrach krachend eine Haselnuss und ließ sich den Kern schmecken. Maus konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so gut gegessen hatte. Links stand ein Schälchen mit Apfelsaft. Sie tauchte ihre Mausezunge in die herrlich fruchtige Flüssigkeit und schmeckte die Sonne des vergangenen Jahres. »Gut?« erkundigte sich Athena, die Eule. Sie hatte mit Unterstützung der Wanderratte Klara ein wahrhaft fürstliches Mahl aus den Vorratskammern der Menschen zusammenstibitzt.
Nach ihrem letzten Gespräch war ihnen allen offenbar nach einer Pause. Die Wanderratte hatte sich auf den Weg in die Werkstatt gemacht, um bei den Menschen nach Informationen über die Regensburger Orgel zu suchen. Die Eule betrachtete den grauen Mäusling, der sich konzentriert durch das Nahrungsangebot futterte. Als der letzte Krümel verschwunden war, setzte sich die Maus zufrieden hin und sortierte mit den Vorderpfoten ihre Schnurrhaare.
»…wwwwwwaaaaaAAAAAAAAHHHHHHHHHH!!« Mit lautem Geheul kam die Wanderratte herbeigeschossen. »Klara! Was ist los? Was ist mit dir?«, kreischte die Eule und flatterte erschreckt. Hinter ihr verbarg sich die Maus. »Orrr, dieser verflixte Kater! Er hat mir einen Riesenschrecken versetzt. Ich hoffte, ihm ein paar Informationen zu entlocken. Er drückt sich doch ständig in der Werkstatt herum und macht vor den Menschen auf niedliche Miezekatze. Du kennst ja sein Geschwurbel. Bis ich irgendwas davon verstanden hatte, stürzte er sich plötzlich fauchend und mit gezückten Krallen auf mich. Dieser Teufel. Du weißt, was los ist, wenn die Menschen eine Ratte in der Werkstatt entdecken …«
Athena rollte mit ihren runden Eulenaugen. »Hast du denn irgendetwas erfahren können? Über die Orgel?« Eine Mäusenase zuckte neugierig unter dem Eulenflügel hervor. Die restliche Maus folgte umgehend. »Ja, Maus, also, deine Orgel bleibt noch eine Weile hier, wenn ich das richtig verstanden habe. Einer der Orgelbauer sprach von einem Konzert in Regensburg, Anfang Juni. Bis dahin sei die Orgel hier restauriert und in ihren Zustand von 1627 wiederhergestellt, meinte er. Jesses, so alt ist deine Orgel? Schönes Stück, das muss ich schon sagen. Und ich habe auf meinen Wanderungen schon einige gesehen …« Maus plusterte sich stolz auf. Wenn das Weiße Maus hören könnte! Herrje, wie es ihrer Großmutter wohl ging? Sie hielt Maus bestimmt für tot. Wenn sie ihr doch nur Bescheid geben könnte!
»Nun, grundsätzlich wäre das schon möglich«, meinte Klara, die Wanderratte, zögernd. Huch, hatte Maus laut gedacht? »Du hast recht, Maus, es wird Zeit, mich mit Weiße Maus zu versöhnen. Weiße Maus … Hat sie dir eigentlich nie ihren Namen genannt? Nein?« Maus schüttelte traurig den Kopf. Namen. Weiße Maus hatte ihre Frage nach ihrem Namen stets abgewiegelt. Und sie, graue Maus, hatte keinen Namen, weil kurz vor ihrer Namengebungszeremonie ihre Eltern und Geschwister starben. »Namen sind Schall und Rauch, Maus. Es gibt Wichtigeres«, pflegte Weiße Maus in scharfem Ton zu sagen − um dann rasch mit dem Orgelkunde-Unterricht zu beginnen.
»Nun, ich fürchte, ich bin nicht ganz unschuldig daran, dass Weiße Maus ihren Namen ablegte. Du hast ja schon mitbekommen, dass ich, also, ich …« Klara seufzte und blickte unglücklich zu Boden. »Eigentlich fand ich die weiße Maus sogar sehr hübsch. Die Farbe kommt nicht oft vor. Natürlich ist sie auch etwas unpraktisch, weil eine weiße Maus sich mit dem auffällig gefärbten Fell schlechter verstecken kann als graue oder braune Mäuse. Deshalb sieht man auch nur selten erwachsene weiße Mäuse, denn meist werden sie schon als Mäusekinder vom Falken oder von der Katze geholt. Nicht so Weiße Maus. Oder Blanche, wie sie eigentlich heißt. Ja, Maus, das wusstest du offenkundig nicht. So hieß sie. Und sie hatte nicht nur eine ungewöhnliche Farbe und einen (für uns) exotisch klingenden Namen, sondern sie war klüger als wir alle − und sehr ernst. Oberflächlich betrachtet hätte man denken können, sie sei eingebildet oder gar hochnäsig. Aber sie war einfach schüchtern. Und über beide Mäuseohren verschossen in diesen eitlen Rabauken aus Ostfriesland, aus Groothusen.
Die Versuchung war zu groß für mich, damals, bei der Jahresversammlung der Orgelmäuse, hier. Ich habe Weiße Maus lächerlich gemacht, wo es nur ging. Ich habe die Nasenflügel zugekniffen und ihre Namen genäselt, was alle anderen begeistert nachmachten, allen voran ihr Schwarm, der Orgelmäuserich aus Ostfriesland. Ich glaube, wir haben alle Blanche ihr schönes weißes Fell geneidet. Noch mehr aber ihre Ernsthaftigkeit und ihr Wissen. Irgendwie tat es uns allen gut, sie mit unseren Späßen etwas zurechtzuschubsen.« Maus knirschte mit den Zähnen. »Du meinst wohl, sie zu erniedrigen. Späße! Schöne Späße. Dass ich nicht lache!«
Die Wanderratte zupfte nervös in ihrem Fell. »Du hast ja recht. Auf jeden Fall biete ich an, nach Regensburg zu wandern und Weiße Maus über deinen Verbleib und den der Orgel zu informieren. Ich werde mich bei ihr entschuldigen, vorausgesetzt, sie spricht mit mir. Nein, bevor du fragst: Mitnehmen kann ich dich nicht. Du wirst mein Tempo niemals durchhalten können. Eine Ratte kommt immer durch. Aber eine Orgelmaus? Vergiss es. Außerdem musst du bei deiner Orgel bleiben. Gib auf sie acht. Athena ist ja auch noch hier und hilft dir. Und dann reist du mit deiner Orgel zusammen zurück, wenn die Zeit gekommen ist. Verstanden?«
Maus nickte. Ihr war ein wenig schwindlig nach all den Geschichten. Ihre Großmutter hatte einen Namen. Natürlich. Nur sie, die graue Maus, hatte keinen. Toll. Und jetzt? Tja. Eigentlich hatte sie nun wirklich keine Lust, auf den Rat dieser doofen Wanderratte zu hören. Bösen Spott mit der Weißen Maus zu treiben, also wirklich. Viel eher hatte sie Lust, Klara kräftig ins Wanderrattenohr zu beißen. Arme Weiße Maus. Das war alles so ungerecht! Maus fühlte sich außerdem schuldig, weil auch sie ihre Großmutter und Mentorin nie ernst genommen hatte. Aber was blieb ihr anderes übrig, als zu bleiben? Sie wollte es immerhin versuchen, ihrer Verantwortung als Orgelmaus gerecht zu werden. Maus dachte daran, was Weiße Maus ihr oft genug gesagt hatte: Tue es oder tue es nicht. Es gibt kein Versuchen.* Sie fühlte sich für die Orgel verantwortlich. Ihre Orgel! Natürlich würde sie sie nicht zurücklassen. Einer musste ein Auge darauf haben, was mit der Orgel geschah. Weiße Maus hätte nichts anderes von ihr erwartet. Maus stellte unternehmungslustig ihre Ohren auf. »Also gut, Ratte. Tu’ endlich mal das Richtige. Ich gehe zu meiner Orgel. Für Weiße Maus, für Blanche!« Sie ballte ihre Pfote zu einer Faust, drehte sich schwungvoll um und verschwand Richtung Werkstatt.
Athena blickte ihr mit großen Eulenaugen hinterher. »Recht forsch, unsere Orgelmaus, hm? Ich fliege mal lieber hinterher. Ich traue Freund Kraven nicht recht. Und als Katerhappen soll die Maus doch lieber nicht enden. Wie sie sagt: Tu’ das Richtige. Bring’ die Sache mit Blanche in Ordnung. Und komm’ bald wieder!« Athena flatterte davon. Die Wanderratte blickte ihr noch eine Weile hinterher. Sie seufzte tief und machte sich auf den langen Weg nach Regensburg.
Kapitel 11 – Alles hat seine Zeit.
Die Wochen vergingen. Seitdem sich die Wanderratte auf die Reise nach Regensburg gemacht hatte, hatte sich Maus in ihrem neuen Alltag in Bautzen eingerichtet. Die ersten Tage nach dem Aufbruch von Klara saß Maus wie auf heißen Kohlen. Sie brannte auf Nachrichten von ihrer Großmutter und Mentorin aus Regensburg. Aber die Ratte hatte leider nicht solch eine komfortable Mitfahrgelegenheit wie Maus − selbst wenn Maus diese Gunst damals nicht zu schätzen gewusst hatte.
Athena verpasste ihr schließlich einen Rüffel, weil sie die nervöse Hektik des grauen Mäuslings schlicht nicht mehr ertragen konnte: »Herrje, Maus, jetzt atme mal durch. Die Ratte kann schließlich nicht fliegen. Mach‘ was anderes!« Und Maus machte etwas Anderes. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie auf sich selbst zurückgeworfen. Sie huschte immer häufiger in die Werkstatt, wo ein Team aus Orgelbauern ihre Orgel auseinandernahmen, Teile restaurierten, andere auswechselten und sich viel über die Orgel und ihre Geschichte unterhielten. Die Faszination und Liebe, mit der diese Menschen ihre Orgel behandelten und über sie sprachen, rührten Maus. Sie fühlte sich ihnen unvermittelt sehr verbunden. Sie fühlte Stolz auf diese Orgel, die über Jahrhunderte von ihrer Familie der Orgelmäuse behütet worden war. Hatte sie wirklich mal gedacht, diese Aufgabe sei langweilig und die Orgel ein verstaubter, alter Haufen von Holz und Metall? Sie schämte sich. Offenbar musste sie erst ihre Heimat verlieren, um sie schätzen zu lernen − und damit auch den Wert der Orgel, die sie nun in einem anderen Licht sah.
Einer der Orgelbauer hatte sich intensiv mit Stephan Cuntz beschäftigt, dem Erbauer der Orgel. Er erzählte seine Geschichte den anderen Menschen in der Werkstatt, während er Inschriften vorlas und in Dokumenten blätterte. Maus lauschte konzentriert, doch Stephanus, ihr Ahn und die erste Orgelmaus ihrer Familie, wurde nicht erwähnt. Die Menschen hatten tatsächlich die Existenz der Orgelmäuse vergessen. Manches kam Maus bekannt vor: Sie erinnerte sich an die vielen Unterrichtsstunden, in denen Weiße Maus sich bemüht hatte, ihr dieses Wissen zu vermitteln − oft vergeblich. Was war nur mit ihr geschehen? Hatte sie sich so sehr verändert? Im Grunde fühlte sie sich immer noch wie die junge Schülerin, die sich den Ansprüchen von Weiße Maus nicht gewachsen fühlte. Und wild, natürlich. Maus grinste. Darauf hatte Maus immer viel Wert gelegt. Sie mochte schließlich keine langweilige Orgelmaus sein.
Nun fragte sie sich allerdings, ob Weiße Maus in Wirklichkeit nicht viel weniger langweilig war, als sie immer gedacht hatte − und sie viel weniger wild. Vielleicht wären sie besser miteinander ausgekommen, wenn Maus‘ Eltern und Geschwister nicht verschwunden wären. Nun war Weiße Maus alt. Und alle ihre Hoffnungen lasteten auf Maus. Wie konnte eine kleine Maus diesen Erwartungen gerecht werden? Doch Maus spürte, dass sich letztlich alles finden würde. Sie würde Weiße Maus wiedersehen und ihr viel zu erzählen haben. Sie hatte auch noch viele Fragen über einige Details, die die Orgelbauer erwähnt hatten. Sie freute sich sehr darauf, ihr neues Wissen mit ihrer Mentorin zu teilen. Oh, Weiße Maus wäre bestimmt stolz auf sie!
»Träumt sie wieder, unsere Orgelfreundin?«, flötete es hinter ihr. Maus machte erschreckt einen Satz. Jesses! Dieser Kater! Schon wieder hatte er es geschafft, sich an Maus heranzupirschen, während sie versuchte, die Menschen in der Werkstatt zu belauschen. Nur gut, dass Kraven Seidenweich von den Menschen so gut gefüttert wurde, dass die Katze auf Mäuse keinen Appetit hatte. Man sah ihm das reichliche Futter auch an, dachte Maus grinsend. Seidenweich? Kraven Seidenmoppel würde besser passen. Aber gut, sie war froh, dass sie nicht auf dem Speiseplan des Katers stand. Und wenn man sich an sein umständliches Getue gewöhnt hatte, war er ein guter Kerl. »Oder hat Sie frappante Geschichtlichkeiten über ihr Musikinstrument vernommen? Erzähle Sie Kraven davon!«
Und so sah Athena sie wenig später unter dem Apfelbaum sitzen: die kleine graue Maus, wild gestikulierend und munter erzählend, und den großen schwarzen Kater, der ihr gebannt zuhörte. Die Eule wunderte sich nicht mehr darüber, denn seit einer Weile war das ein vertrautes Bild. Offenbar war der Werkstattkater von Maus‘ Geschichten über die Orgel, deren Geschichte und die Orgelmusik nicht weniger gefangen als die Maus selbst. Eine solche Freundschaft hätte sich niemand ausdenken können. Was Weiße Maus dazu wohl sagen würde? Athena fragte sich, wo die Wanderratte blieb. Sie hatte sie längst zurückerwartet. Wenn sie Maus richtig verstanden hatte, waren die Restaurierungsarbeiten an der Orgel bald beendet. Was, wenn Klara nicht rechtzeitig zurück war? Sollte sie Maus einfach wieder mit der Orgel nach Regensburg reisen lassen? Eigentlich sprach nicht viel dagegen. Aber wenn auch nur eine kleine Chance auf eine Versöhnung mit Weiße Maus und eine Wiedereingliederung der Regensburger in die Gilde der Orgelmäuse bestand − es wäre ein Jammer, wenn sie vertan würde. Sie warf dem außergewöhnlichen Duo im Garten noch einen letzen Blick zu und flog zu einem ihrer Schlupfwinkel.
Doch bevor sie dort ankam, stutzte sie. Sie sah eine dunkle Gestalt um die Ecke huschen und in der Scheune verschwinden. »Klara!« Die Eule drehte ab und flog der Gestalt hinterher. »Klara, bist du’s?« Athena sah die Wanderratte in einer Ecke sitzen. Sie sah zerzaust und mager aus. Ihre Reise hatte sie offensichtlich mitgenommen. Aber was die Eule erschreckte, war die bekümmerte und niedergedrückte Haltung der Ratte. Das war nicht ihre Klara, die leichtfertige, unbekümmerte und immer etwas zu forsche Wanderratte mit dem losen Mundwerk. »Was hast du denn?« Die Eule hopste auf die Ratte zu. »Was ist passiert?«
»Weiße Maus … Blanche … Sie …« Klara sprach so leise, dass Athena sie kaum verstehen konnte. Die Eule rückte näher. »Was ist mit ihr? Nun sag‘ schon!«
»Weiße Maus ist tot.«
Kapitel 12 – Namenstag
»Nun, das geschieht dir ganz recht, Maus. Eine Orgelmaus kommt nie zu spät, ebenso wenig zu früh. Sie trifft genau dann ein, wenn sie es beabsichtigt. Wärest du früher zum Unterricht gekommen, hättest du …« RUMMSSS! Maus schreckte hoch. Jesses, sie war in der Werkstatt eingeschlafen. Wenn sie nun einer der Orgelbauer entdeckt hätte! Sie sah, wie sich ein Orgelbauer nah, sehr nah, leise fluchend bückte und einen Hammer aufhob. Maus schüttelte die letzten Überbleibsel ihres Traums ab. Wie so oft in den letzten Tagen hatte sie von Weiße Maus geträumt. Maus warf den Orgelbauern einen schnellen Blick zu, bevor sie durch einen Türspalt aus der Werkstatt verschwand. Er hatte sie nicht bemerkt, ein Glück!
Die Arbeiten an ihrer Orgel gingen offenbar zügig voran. Maus verbrachte ihre Tage in der Werkstatt, beobachtete die kundigen Handgriffe der Handwerker und lauschte ihren Gesprächen. Abends, wenn die Menschen verschwunden waren, untersuchte sie zusammen mit Kater Kraven den Fortschritt der Restaurierungsarbeiten. In einer Woche sollte die Orgel wieder nach Regensburg transportiert werden. Das hatte Maus erst heute in der Werkstatt gehört. Sie huschte nach draußen und setzte sich unter den Apfelbaum, dessen pralle Blütenknospen sich in der Frühlingssonne bald öffnen würden. Hier hatte sie vom Tod ihrer Mentorin und Großmutter erfahren, am Tag der Rückkehr von Klara. Die Wanderratte hatte die traurige Kunde vom Tod Blanches, der Weißen Maus, von ihrer Reise nach Regensburg mitgebracht.
»Ich kam gerade noch rechtzeitig. Eine Weile musste ich in der Minoritenkirche suchen. Ich fand Blanche an einem eurer Rückzugsorte. Sie war schwach und krank. ‘Einfach alt’, meinte sie. Weiße Maus schien sich kaum zu wundern, mich zu sehen. Immerhin hatten wir uns nicht gerade im Guten getrennt.« Klara warf Maus schuldbewusst einen raschen Blick zu. Maus blickte sie nur an, immer noch geschockt. »Ich besorgte Weiße Maus etwas zu Essen und zu Trinken. Wir sprachen lange. Blanche war überglücklich, dich in Sicherheit zu wissen, Maus. Sie hatte gehofft, dass du irgendwie im Transporter mit der Orgel gelandet bist. Aber nach dem, was mit deinen Eltern und Geschwistern passiert war … Ähem, Kraven hätte ich besser mal nicht erwähnt.« Maus schnaufte empört: »Hättest du dir das nicht sparen können? War doch klar, dass sie sich aufregt? Orrr, Klara! Weiße Maus war krank − und du regst sie auch noch auf?« Klara biss nervös in ihren Rattenschwanz. »Ach, komm, das hat sie gar nicht so sehr aufgeregt. Aufgeregt hat sie sich erst, als ich mich entschuldigen wollte, wegen damals, du weißt schon … diese Sache da.«
»Ich glaube das nicht! Herrje, Klara! Du hast es wieder verbockt, oder? Erzähle mir keinen Mumpitz! Du bist doch irgendwie an allem schuld!« Vor Wut zitternd rannte Maus davon. »Aber, ich − Maus!« Klara fiepte. »Lass’ sie, Klara«, meinte Athena, »Maus ist völlig durcheinander. Und kannst du es ihr verdenken? Du hast es nur gut gemeint, ja, aber wundere dich nicht, dass Maus keine hohe Meinung von dir hat nach allem, was sie bisher von dir gehört hat.« Die Wanderratte schaute die Eule unglücklich an. »Sicher, da hast Du nicht ganz unrecht. Wenn sie mir nur noch eine Weile zugehört hätte. Weißt du, Blanche hat mir noch eine Botschaft für Maus mitgegeben, also, eigentlich sogar zwei Botschaft, mit denen mindestens ein Herzenswunsch von Maus in Erfüllung gehen dürfte. Ob ich …?« Athena winkte die Ratte zu sich heran. »Erzähl’ mir am besten alles. Maus muss sich ohnehin erstmal beruhigen. Ich wette, sie ist zu diesem Kater gerannt. Weiß der Himmel, was sie an diesem Umstandskrämer findet.« Die Eule und die Wanderratte verschwanden in der Scheune.
Seitdem hatte Maus mit Klara kein Wort gesprochen. Wenn sie die Wanderratte sah, machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Werkstatt. Wenn die Menschen darin waren, traute sich die Ratte nicht hinein. Zu groß war die Gefahr, entdeckt zu werden. Während eine kleine graue Maus sich gut zu verbergen vermochte. Und so verbrachte Maus ihre Tage in der Werkstatt oder mit Kraven, dem Kater. Er, der schon immer viel Zeit bei den Orgelbauern verbrachte hatte (und sich dort schamlos ihren Zuwendungen hingab), erzählte Maus von anderen Orgeln, die in der Werkstatt gebaut oder restauriert worden waren. Maus erhielt eine bessere Einschätzung vom Wert ihrer Orgel. Sie sah, wie freudig die Menschen mit ihrer Orgel umgingen und welchen Wert sie dem Instrument beimaßen. Das erfüllte sie mir Stolz auf ihre Orgel. Und mit Zuneigung. Während sie das Tun der Menschen beobachtete, versuchte sie sich an alles zu erinnern, was Weiße Maus ihr über die Orgel erzählt hatte. Sie erkannte die tiefe Liebe ihrer Großmutter zu der alten Orgel. »Poesie kann vieles beinhalten, was uns die Augen öffnet*«, sagte sie. Dann zitierte sie einen Menschen**, der angeblich einst eine ihrer Ahninnen als Orgelmaus gekannt hatte:
»Seufzend durchs Gewölbe zieht, und wieder dröhnend,
Orgelspiel. Andächtige Gläubige hören,
Wie vielstimmig in verschlungenen Chören,
Sehnsucht, Trauer, Engelsfreude tönend,
Sich Musik aufbaut zu geistigen Räumen,
Sich verloren wiegt in seligen Träumen,
Firmamente baut aus tönenden Sternen.«
Maus wünschte sich oft, eine aufmerksamere Schülerin gewesen zu sein. Sie hatte sich immer nach Abenteuern gesehnt. Nun erkannte sie, dass auch Wissen und Verantwortung Abenteuer waren. Wenn sie wieder einmal einen Zusammenhang begriff und Gehörtes im Gesehenen wiedererkannte, war das mindestens so aufregend wie eins der Abenteuer von Indiana Mouse! Wie gern hätte sie diese Erkenntnis mit Weiße Maus geteilt … Die Trauer ließ sie auch die Gesellschaft der Eule fliehen. Sie ahnte, dass Athena nur wieder Partei für Klara ergriffen hatte. Aber Verständnis für die doofe Wanderratte war das Letzte, was sie momentan ertragen konnte. Sie schob ihr alle Schuld am Unglück von Weiße Maus zu − und an ihrem Tod, so ungerecht das auch sein mochte.
»Kommt er mit, der pelzige Mäusling? Mir deucht, als hätten die Menschlein gar Köstliches für uns hinterleget.« Trotz ihres schweren Herzens musste Maus kichern. Der eigentümliche Kater Kraven war der einzige, den sie dieser Tage ertragen konnte. So seltsam er war: Sie ahnte ein edelmütiges, mitfühlendes Herz in dem verwöhnten Katzentier. Spaßeshalber drohte er ihr immer mal wieder, sie zu fressen. Aber damit konnte er Maus schon lange nicht mehr erschrecken. Kraven empfände es vermutlich weit unter seiner Würde, sein Futter jagen und erlegen zu müssen. Statt dessen erhielt er regelmäßig von den Menschen erlesene Köstlichkeiten. Es reichte immer für sie beide. Und so saßen am Abend, wenn die Werkstatt leer war, Katz und Maus einträchtig speisend vor einem Meissner Porzellantellerchen mit güldenem Rand.
Dann kam der Tag des Abschieds. Die Orgel war bereits wieder in Kisten verstaut. Am folgenden Tag sollte früh am Morgen der Transport nach Regensburg erfolgen. Maus und Kraven saßen in der Abendsonne unterm Apfelbaum und schauten den ersten Faltern hinterher. »Sie hat sich also entschieden?« erkundigte sich der Kater. »Nun, ich …« Maus zögerte. Sie hörte ein Flattern und ein Trippeln: Athena und Klara. Maus sprang auf. »Nicht doch, bleibe sie. Albern ist das, ist es das nicht?« meinte Kraven. Die graue Maus seufzte. Sie kam sich plötzlich ziemlich kindisch vor. Immerhin hatte sie einen Entschluß gefasst, den sie sehr erwachsen fand. Passte es dazu, wenn sie weiterhin kein Wort mit der Ratte und der Eule sprach? Ohne die beiden hätte sie von vielen Ereignissen und letztlich auch von der Geschichte ihrer Großmutter nichts erfahren. Selbst wenn beide keine rühmliche Rolle in dieser Geschichte gespielt haben.
»Maus, ich weiß, wir wissen, dass du nicht gut auf uns zu sprechen bist. Nein, schon gut. Wir haben es sicher nicht besser verdient. Doch bevor du abreist, gibt es noch etwas, dass du wissen musst. Klara?« Die Eule winkte die Wanderratte ungeduldig herbei. »Maus, als ich mit Weiße Maus vor ihrem Tod sprach, trug sie mir etwas auf. Zwei Dinge sollte ich Dir mitteilen. Nun, eigentlich drei: Du musst zunächst einmal wissen, dass du Blanche über alles am Herzen lagst. Du warst die letzte ihrer Familie − und ihre ganze Hoffnung. Dass ich zu ihr kam und die alte Verbindung zur Gilde wiederhergestellt werden kann, war eine große Erleichterung für Blanche. Sie wusste, dass du alles andere lieber machen möchtest, als ihre Nachfolgerin und Orgelmaus zu werden. Es tat ihr leid, dass sie dich immerzu gedrängt hatte − gegen deinen Willen.
Das eine ist also, dass sie dich aus dieser Pflicht entlässt. Die nächste Jahresversammlung der Orgelmaus-Gilde ist in wenigen Wochen. Weiße Maus plante, dorthin zu reisen und dich triumphierend als ihre Nachfolgerin zu präsentieren. Und sofort wieder abzureisen. Nun ja, du weißt, wir haben ihr damals übel mitgespielt. Wenn du dich also entschließt, in die Welt auszuziehen und dein Glück andernorts zu machen, steht dem nun nichts mehr im Wege. Ich würde bei der Gilde nach einer Nachfolgerin Ausschau halten. Sicherlich findet sich jemand, eine Maus aus einer anderen Orgelmaus-Familie, die nach Regensburg kommen möchte.« Maus schniefte leise. Wenn Weiße Maus nur geahnt hätte … ach!
»Das andere ist: Weiße Maus bittet dich um Verzeihung.« Maus blickte erstaunt auf. Was? Warum? Was kam jetzt? »Erinnerst du dich, dass wir sie unter anderem wegen ihres Namens immer aufgezogen haben? Nun, sie wusste, dass es dich schmerzte, keinen Namen zu haben. Aber irgendwie tat es ihr gut, dich deshalb leiden zu lassen. Sie hatte sich irgendwie gewünscht, dass euch das miteinander verbinden würde. Es tat ihr wirklich von Herzen leid. Sie schämte sich, dich angelogen zu haben. Denn, nun, sie wusste, welchen Namen deine Eltern für dich vorgesehen hatte. Ihr Vermächtnis an dich ist also nicht nur deine Freiheit, sondern auch dein Name: Cäcilia. Du heißt Cäcilia.«
Cäcilia. Maus wandte sich ab und holte tief Luft. SIE HATTE EINEN NAMEN! Sie flüsterte ihn vor sich hin, kostete ihn auf ihrer Zunge, lauschte auf den Klang. Dieser Name …, er fühlte sich so richtig an. Ihre Eltern hatten ihn für sie ausgewählt und nun, Jahre später, war er bei ihr angekommen. Cäcilia. »Cäcilia! Mein Name ist Cäcilia! Kraven, hast du das gehört? Ich habe einen Namen! Ich bin Cäcilia, die Orgelmaus!« Fröhlich lachend hoppste die Maus davon und wetzte über die Wiese. Sie fühlte sich plötzlich wunderbar leicht und froh!
»Nun sehet euch den mäuslichen Pelzling an.« Der Kater maunzte gerührt. So glücklich hatte er seine kleine Freundin noch nie gesehen. »Orgelmaus? Bedeutet das …?« Fragend blickte Athena die Katze an. »Sie hat richtig verstanden. Die Mäusin hat schon längst beschlossen, ihr Amt als Orgelmaus anzutreten. Fürwahr, ein guter Entschluss, findet sie nicht?«
Ein Orgelbauer blickte zufällig aus dem Fenster. Im Garten sah er den Werkstattkater, eine dunkle Wanderratte und eine Eule im Gras sitzen. Sie schauten alle drei gebannt auf eine kleine graue Maus, die hüpfend und fiepend eine Runde nach der anderen um den Apfelbaum und das seltsame Grüppchen drehte. Er schmunzelte. »Verrückte Sache. Ich hätte wohl den Obstbrand nach dem Essen weglassen sollen …«
—
Tags drauf verließ der Transporter mit der Regensburger Orgel den Hof der Firma Eule. Vor der Werkstatt standen die Orgelbauer, die sich freuten, dass die Restaurierung der Orgel so gut geglückt war. In wenigen Wochen würde sie bei einem Konzert in alter Pracht erklingen. Wenige Meter weiter, in einem verborgenen Winkel vor der Scheune, hatten sich Athena, Klara und Kraven versammelt. Sie blickten dem Transporter hinterher. In einer der Kisten, der Kiste mit den Orgelpfeifen, wussten sie ihre Freundin, die Orgelmaus Cäcilia, gut aufgehoben. Sie kehrte heim − und bei der nächsten Versammlung der Gilde der Orgelmäuse würden sie einander wiedersehen!
Und damit ist unsere Geschichte zu Ende. Herzlichen Dank fürs Mitlesen. Wer die Abenteuer der Orgelmaus noch einmal in Gänze nachlesen möchte, kann das hier tun. Historisches und Geschichten über die Orgelmusik gibt es hier. Und wenn Ihr die Orgelmaus weiterhin verfolgt, hier im Blog oder bei Twitter oder bei Facebook oderbei Instagram, erlebt vielleicht in den nächsten Wochen noch die ein oder andere Überraschung! Ab Anfang Juni könnt Ihr die Orgel dann übrigens wieder im Historischen Museum in Regensburg besuchen. Und wer weiß, vielleicht seht Ihr ja eine kleine Maus durch die Minoritenkirche huschen …
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Der Apfelbaum ist aufgeblüht.
Nun summen alle Bienen.
Die Meise singt ein Meisenlied.
Der Frühling ist erschienen.
Die Sonne wärmt den Apfelbaum.
Der Mond scheint auf ihn nieder.
Die kleine Meise singt im Traum
die Apfelblütenlieder.
Die Bienen schwärmen Tag für Tag
und naschen von den Blüten.
Mag sie der Mai vor Hagelschlag
und hartem Frost behüten.
Der Apfelbaum ist aufgeblüht.
Der Winter ist vorbei.
Mit Blütenduft und Meisenlied
erscheint der junge Mai.
***
Text: Wibke Ladwig
*Und, Zitat aus welchem Film?
**Hermann Hesse, Orgelspiel
***James Krüss, Der Apfelbaum ist aufgeblüht
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