Alles hat seine Zeit. | Orgelmaus – Eine Geschichte von Abenteuer und Musik, Folge 11

Griaß Gott! Seitdem wir die graue Maus kennengelernt haben, die Orgelmaus und damit Nachfolgerin ihrer Großmutter und Mentorin, Weiße Maus, werden sollte, ist viel geschehen. Es gab eine Maus in der Kiste, Begegnungen mit einer seltsamen Katze und einer nicht minder seltsamen Eule sowie deren Freundin, der Wanderratte. Als unser Mäusling sich wünschte, Abenteuer wie Indiana Mouse zu erleben, hatte sie sich das vermutlich ein wenig anders vorgestellt. Und das Leben hat es so an sich, dass es immer anders kommt, als man denkt … 

Die Wochen vergingen. Seitdem sich die Wanderratte auf die Reise nach Regensburg gemacht hatte, hatte sich Maus in ihrem neuen Alltag in Bautzen eingerichtet. Die ersten Tage nach dem Aufbruch von Klara saß Maus wie auf heißen Kohlen. Sie brannte auf Nachrichten von ihrer Großmutter und Mentorin aus Regensburg. Aber die Ratte hatte leider nicht solch eine komfortable Mitfahrgelegenheit wie Maus − selbst wenn Maus diese Gunst damals nicht zu schätzen gewusst hatte.

Athena verpasste ihr schließlich einen Rüffel, weil sie die nervöse Hektik des grauen Mäuslings schlicht nicht mehr ertragen konnte: »Herrje, Maus, jetzt atme mal durch. Die Ratte kann schließlich nicht fliegen. Mach‘ was anderes!« Und Maus machte etwas Anderes. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie auf sich selbst zurückgeworfen. Sie huschte immer häufiger in die Werkstatt, wo ein Team aus Orgelbauern ihre Orgel auseinandernahmen, Teile restaurierten, andere auswechselten und sich viel über die Orgel und ihre Geschichte unterhielten. Die Faszination und Liebe, mit der diese Menschen ihre Orgel behandelten und über sie sprachen, rührten Maus. Sie fühlte sich ihnen unvermittelt sehr verbunden. Sie fühlte Stolz auf diese Orgel, die über Jahrhunderte von ihrer Familie der Orgelmäuse behütet worden war. Hatte sie wirklich mal gedacht, diese Aufgabe sei langweilig und die Orgel ein verstaubter, alter Haufen von Holz und Metall? Sie schämte sich. Offenbar musste sie erst ihre Heimat verlieren, um sie schätzen zu lernen − und damit auch den Wert der Orgel, die sie nun in einem anderen Licht sah.

Einer der Orgelbauer hatte sich intensiv mit Stephan Cuntz beschäftigt, dem Erbauer der Orgel. Er erzählte seine Geschichte den anderen Menschen in der Werkstatt, während er Inschriften vorlas und in Dokumenten blätterte. Maus lauschte konzentriert, doch Stephanus, ihr Ahn und die erste Orgelmaus ihrer Familie, wurde nicht erwähnt. Die Menschen hatten tatsächlich die Existenz der Orgelmäuse vergessen. Manches kam Maus bekannt vor: Sie erinnerte sich an die vielen Unterrichtsstunden, in denen Weiße Maus sich bemüht hatte, ihr dieses Wissen zu vermitteln − oft vergeblich. Was war nur mit ihr geschehen? Hatte sie sich so sehr verändert? Im Grunde fühlte sie sich immer noch wie die junge Schülerin, die sich den Ansprüchen von Weiße Maus nicht gewachsen fühlte. Und wild, natürlich. Maus grinste. Darauf hatte Maus immer viel Wert gelegt. Sie mochte schließlich keine langweilige Orgelmaus sein.

Nun fragte sie sich allerdings, ob Weiße Maus in Wirklichkeit nicht viel weniger langweilig war, als sie immer gedacht hatte − und sie viel weniger wild. Vielleicht wären sie besser miteinander ausgekommen, wenn Maus‘ Eltern und Geschwister nicht verschwunden wären. Nun war Weiße Maus alt. Und alle ihre Hoffnungen lasteten auf Maus. Wie konnte eine kleine Maus diesen Erwartungen gerecht werden? Doch Maus spürte, dass sich letztlich alles finden würde. Sie würde Weiße Maus wiedersehen und ihr viel zu erzählen haben. Sie hatte auch noch viele Fragen über einige Details, die die Orgelbauer erwähnt hatten. Sie freute sich sehr darauf, ihr neues Wissen mit ihrer Mentorin zu teilen. Oh, Weiße Maus wäre bestimmt stolz auf sie!

»Träumt sie wieder, unsere Orgelfreundin?«, flötete es hinter ihr. Maus machte erschreckt einen Satz. Jesses! Dieser Kater! Schon wieder hatte er es geschafft, sich an Maus heranzupirschen, während sie versuchte, die Menschen in der Werkstatt zu belauschen. Nur gut, dass Kraven Seidenweich von den Menschen so gut gefüttert wurde, dass die Katze auf Mäuse keinen Appetit hatte. Man sah ihm das reichliche Futter auch an, dachte Maus grinsend. Seidenweich? Kraven Seidenmoppel würde besser passen. Aber gut, sie war froh, dass sie nicht auf dem Speiseplan des Katers stand. Und wenn man sich an sein umständliches Getue gewöhnt hatte, war er ein guter Kerl. »Oder hat Sie frappante Geschichtlichkeiten über ihr Musikinstrument vernommen? Erzähle Sie Kraven davon!«

Und so sah Athena sie wenig später unter dem Apfelbaum sitzen: die kleine graue Maus, wild gestikulierend und munter erzählend, und den großen schwarzen Kater, der ihr gebannt zuhörte. Die Eule wunderte sich nicht mehr darüber, denn seit einer Weile war das ein vertrautes Bild. Offenbar war der Werkstattkater von Maus‘ Geschichten über die Orgel, deren Geschichte und die Orgelmusik nicht weniger gefangen als die Maus selbst. Eine solche Freundschaft hätte sich niemand ausdenken können. Was Weiße Maus dazu wohl sagen würde? Athena fragte sich, wo die Wanderratte blieb. Sie hatte sie längst zurückerwartet. Wenn sie Maus richtig verstanden hatte, waren die Restaurierungsarbeiten an der Orgel bald beendet. Was, wenn Klara nicht rechtzeitig zurück war? Sollte sie Maus einfach wieder mit der Orgel nach Regensburg reisen lassen? Eigentlich sprach nicht viel dagegen. Aber wenn auch nur eine kleine Chance auf eine Versöhnung mit Weiße Maus und eine Wiedereingliederung der Regensburger in die Gilde der Orgelmäuse bestand − es wäre ein Jammer, wenn sie vertan würde. Sie warf dem außergewöhnlichen Duo im Garten noch einen letzen Blick zu und flog zu einem ihrer Schlupfwinkel.

Doch bevor sie dort ankam, stutzte sie. Sie sah eine dunkle Gestalt um die Ecke huschen und in der Scheune verschwinden. »Klara!« Die Eule drehte ab und flog der Gestalt hinterher. »Klara, bist du’s?« Athena sah die Wanderratte in einer Ecke sitzen. Sie sah zerzaust und mager aus. Ihre Reise hatte sie offensichtlich mitgenommen. Aber was die Eule erschreckte, war die bekümmerte und niedergedrückte Haltung der Ratte. Das war nicht ihre Klara, die leichtfertige, unbekümmerte und immer etwas zu forsche Wanderratte mit dem losen Mundwerk. »Was hast du denn?« Die Eule hopste auf die Ratte zu. »Was ist passiert?«

»Weiße Maus … Blanche … Sie …« Klara sprach so leise, dass Athena sie kaum verstehen konnte. Die Eule rückte näher. »Was ist mit ihr? Nun sag‘ schon!«

»Weiße Maus ist tot.«

Wie bitte? Oh nein! Was ist da nur passiert? Wie wird nur unsere kleine Heldin, die Orgelmaus, diese Nachricht aufnehmen? Das kann doch nicht wahr sein! Ob die Wanderratte und Weiße Maus sich noch miteinander versöhnen konnten? Nächste Woche, in der letzten Folge unserer Abenteuergeschichte, werden wir das hoffentlich erfahren. 

Stück für Stück erkundete Maus die Orgel, die in der Werkstatt restauriert wurde. (Foto: Anja M. Pietzsch)

Stück für Stück erkundete Maus die Orgel, die in der Werkstatt restauriert wurde. (Foto: Anja M. Pietzsch)

Hier wurden Teile der Orgel wiederhergestellt, dort ersetzt. (Foto: Anja M. Pietzsch)

Hier wurden Teile der Orgel wiederhergestellt, dort ersetzt. (Foto: Anja M. Pietzsch)

Die Liebe und die Leidenschaft für Orgelbau waren in der Werkstatt deutlich zu spüren. (Foto: Anja M. Pietzsch)

Die Liebe und die Leidenschaft für Orgelbau waren in der Werkstatt deutlich zu spüren. (Foto: Anja M. Pietzsch)

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