Griaß Gott! Es war ein weiter Weg für unsere graue Maus vom unwillig ertragenen Orgelkunde-Unterricht in Regensburg bis zu den kühnen Auseinandersetzungen mit Katzen, Eulen und Wanderratten in der Orgelwerkstatt in Bautzen. Die Abenteuer führen Maus tief in die Familiengeschichte − und letztlich vielleicht auch zu sich selbst.
Genüsslich biss Maus in ein duftendes Stück Käse. Sie zerbrach krachend eine Haselnuss und ließ sich den Kern schmecken. Maus konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so gut gegessen hatte. Links stand ein Schälchen mit Apfelsaft. Sie tauchte ihre Mausezunge in die herrlich fruchtige Flüssigkeit und schmeckte die Sonne des vergangenen Jahres. »Gut?« erkundigte sich Athena, die Eule. Sie hatte mit Unterstützung der Wanderratte Klara ein wahrhaft fürstliches Mahl aus den Vorratskammern der Menschen zusammenstibitzt.
Nach ihrem letzten Gespräch war ihnen allen offenbar nach einer Pause. Die Wanderratte hatte sich auf den Weg in die Werkstatt gemacht, um bei den Menschen nach Informationen über die Regensburger Orgel zu suchen. Die Eule betrachtete den grauen Mäusling, der sich konzentriert durch das Nahrungsangebot futterte. Als der letzte Krümel verschwunden war, setzte sich die Maus zufrieden hin und sortierte mit den Vorderpfoten ihre Schnurrhaare.
»…wwwwwwaaaaaAAAAAAAAHHHHHHHHHH!!« Mit lautem Geheul kam die Wanderratte herbeigeschossen. »Klara! Was ist los? Was ist mit dir?«, kreischte die Eule und flatterte erschreckt. Hinter ihr verbarg sich die Maus. »Orrr, dieser verflixte Kater! Er hat mir einen Riesenschrecken versetzt. Ich hoffte, ihm ein paar Informationen zu entlocken. Er drückt sich doch ständig in der Werkstatt herum und macht vor den Menschen auf niedliche Miezekatze. Du kennst ja sein Geschwurbel. Bis ich irgendwas davon verstanden hatte, stürzte er sich plötzlich fauchend und mit gezückten Krallen auf mich. Dieser Teufel. Du weißt, was los ist, wenn die Menschen eine Ratte in der Werkstatt entdecken …«
Athena rollte mit ihren runden Eulenaugen. »Hast du denn irgendetwas erfahren können? Über die Orgel?« Eine Mäusenase zuckte neugierig unter dem Eulenflügel hervor. Die restliche Maus folgte umgehend. »Ja, Maus, also, deine Orgel bleibt noch eine Weile hier, wenn ich das richtig verstanden habe. Einer der Orgelbauer sprach von einem Konzert in Regensburg, Anfang Juni. Bis dahin sei die Orgel hier restauriert und in ihren Zustand von 1627 wiederhergestellt, meinte er. Jesses, so alt ist deine Orgel? Schönes Stück, das muss ich schon sagen. Und ich habe auf meinen Wanderungen schon einige gesehen …« Maus plusterte sich stolz auf. Wenn das Weiße Maus hören könnte! Herrje, wie es ihrer Großmutter wohl ging? Sie hielt Maus bestimmt für tot. Wenn sie ihr doch nur Bescheid geben könnte!
»Nun, grundsätzlich wäre das schon möglich«, meinte Klara, die Wanderratte, zögernd. Huch, hatte Maus laut gedacht? »Du hast recht, Maus, es wird Zeit, mich mit Weiße Maus zu versöhnen. Weiße Maus … Hat sie dir eigentlich nie ihren Namen genannt? Nein?« Maus schüttelte traurig den Kopf. Namen. Weiße Maus hatte ihre Frage nach ihrem Namen stets abgewiegelt. Und sie, graue Maus, hatte keinen Namen, weil kurz vor ihrer Namengebungszeremonie ihre Eltern und Geschwister starben. »Namen sind Schall und Rauch, Maus. Es gibt Wichtigeres«, pflegte Weiße Maus in scharfem Ton zu sagen − um dann rasch mit dem Orgelkunde-Unterricht zu beginnen.
»Nun, ich fürchte, ich bin nicht ganz unschuldig daran, dass Weiße Maus ihren Namen ablegte. Du hast ja schon mitbekommen, dass ich, also, ich …« Klara seufzte und blickte unglücklich zu Boden. »Eigentlich fand ich die weiße Maus sogar sehr hübsch. Die Farbe kommt nicht oft vor. Natürlich ist sie auch etwas unpraktisch, weil eine weiße Maus sich mit dem auffällig gefärbten Fell schlechter verstecken kann als graue oder braune Mäuse. Deshalb sieht man auch nur selten erwachsene weiße Mäuse, denn meist werden sie schon als Mäusekinder vom Falken oder von der Katze geholt. Nicht so Weiße Maus. Oder Blanche, wie sie eigentlich heißt. Ja, Maus, das wusstest du offenkundig nicht. So hieß sie. Und sie hatte nicht nur eine ungewöhnliche Farbe und einen (für uns) exotisch klingenden Namen, sondern sie war klüger als wir alle − und sehr ernst. Oberflächlich betrachtet hätte man denken können, sie sei eingebildet oder gar hochnäsig. Aber sie war einfach schüchtern. Und über beide Mäuseohren verschossen in diesen eitlen Rabauken aus Ostfriesland, aus Groothusen.
Die Versuchung war zu groß für mich, damals, bei der Jahresversammlung der Orgelmäuse, hier. Ich habe Weiße Maus lächerlich gemacht, wo es nur ging. Ich habe die Nasenflügel zugekniffen und ihre Namen genäselt, was alle anderen begeistert nachmachten, allen voran ihr Schwarm, der Orgelmäuserich aus Ostfriesland. Ich glaube, wir haben alle Blanche ihr schönes weißes Fell geneidet. Noch mehr aber ihre Ernsthaftigkeit und ihr Wissen. Irgendwie tat es uns allen gut, sie mit unseren Späßen etwas zurechtzuschubsen.« Maus knirschte mit den Zähnen. »Du meinst wohl, sie zu erniedrigen. Späße! Schöne Späße. Dass ich nicht lache!«
Die Wanderratte zupfte nervös in ihrem Fell. »Du hast ja recht. Auf jeden Fall biete ich an, nach Regensburg zu wandern und Weiße Maus über deinen Verbleib und den der Orgel zu informieren. Ich werde mich bei ihr entschuldigen, vorausgesetzt, sie spricht mit mir. Nein, bevor du fragst: Mitnehmen kann ich dich nicht. Du wirst mein Tempo niemals durchhalten können. Eine Ratte kommt immer durch. Aber eine Orgelmaus? Vergiss es. Außerdem musst du bei deiner Orgel bleiben. Gib auf sie acht. Athena ist ja auch noch hier und hilft dir. Und dann reist du mit deiner Orgel zusammen zurück, wenn die Zeit gekommen ist. Verstanden?«
Maus nickte. Ihr war ein wenig schwindlig nach all den Geschichten. Ihre Großmutter hatte einen Namen. Natürlich. Nur sie, die graue Maus, hatte keinen. Toll. Und jetzt? Tja. Eigentlich hatte sie nun wirklich keine Lust, auf den Rat dieser doofen Wanderratte zu hören. Bösen Spott mit der Weißen Maus zu treiben, also wirklich. Viel eher hatte sie Lust, Klara kräftig ins Wanderrattenohr zu beißen. Arme Weiße Maus. Das war alles so ungerecht! Maus fühlte sich außerdem schuldig, weil auch sie ihre Großmutter und Mentorin nie ernst genommen hatte. Aber was blieb ihr anderes übrig, als zu bleiben? Sie wollte es immerhin versuchen, ihrer Verantwortung als Orgelmaus gerecht zu werden. Maus dachte daran, was Weiße Maus ihr oft genug gesagt hatte: Tue es oder tue es nicht. Es gibt kein Versuchen.* Sie fühlte sich für die Orgel verantwortlich. Ihre Orgel! Natürlich würde sie sie nicht zurücklassen. Einer musste ein Auge darauf haben, was mit der Orgel geschah. Weiße Maus hätte nichts anderes von ihr erwartet. Maus stellte unternehmungslustig ihre Ohren auf. »Also gut, Ratte. Tu‘ endlich mal das Richtige. Ich gehe zu meiner Orgel. Für Weiße Maus, für Blanche!« Sie ballte ihre Pfote zu einer Faust, drehte sich schwungvoll um und verschwand Richtung Werkstatt.
Athena blickte ihr mit großen Eulenaugen hinterher. »Recht forsch, unsere Orgelmaus, hm? Ich fliege mal lieber hinterher. Ich traue Freund Kraven nicht recht. Und als Katerhappen soll die Maus doch lieber nicht enden. Wie sie sagt: Tu‘ das Richtige. Bring‘ die Sache mit Blanche in Ordnung. Und komm‘ bald wieder!« Athena flatterte davon. Die Wanderratte blickte ihr noch eine Weile hinterher. Sie seufzte tief und machte sich auf den langen Weg nach Regensburg.
Unser graues Mäuslein gewinnt an Format, oder? Ob sie tatsächlich die Nachfolge ihrer Großmutter antreten wird? Einst fand sie allein den Gedanken sehr langweilig. Nun ist sie auf sich gestellt. Auf die Eule scheint nicht wirklich Verlass zu sein. Und sie wird sich vor dem unberechenbaren Werkstattkater Kraven hüten müssen. Und dann stellt sich die Frage, ob die Wanderratte Regensburg und eine Versöhnung mit Weiße Maus erreichen wird … Das erfahren wir nächste Woche!

Puh. In Einzelteilen lag und stand sie da, ihre Orgel. Konnte das seine Richtigkeit haben?
(Foto: Anja M. Pietzsch)
Text: Wibke Ladwig
*Klar. Yoda. Ihr habt es sicher sofort gewusst!